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- Inflationserwartungen außer Kontrolle?
Eines der allgemein anerkannten Probleme der heutigen Makroökonomie besteht darin, dass sie nur sehr wenig Raum für Geldillusionen lässt.[1] Angeblich sind die Menschen rational und gut genug informiert, um den Schleier der Inflation immer sofort und genau zu durchschauen. Manche Preise für Güter und Dienstleistungen, sowie Löhne mögen etwas rigide sein, so die Logik. Aber wann immer Lohn- und Preissetzer die Chance für Anpassungen haben, reflektieren die neuen Nominalbeträge passgenau aktuelle, rationale Inflationserwartungen. In der Zwischenzeit beginnen die Finanzmärkte ein solches Verhalten von Unternehmen, Arbeitnehmern, Gewerkschaften und anderen bereits ebenso genau einzupreisen. Das bedeutet wiederum, dass man die Inflationserwartungen anhand verschiedener Anleihekurse abschätzen kann.
Unser „Chart of the Week“ liefert die Ergebnisse einer solchen Übung. Es zeigt die Spanne zwischen den Breakeven-Inflationsraten über die nächsten zehn Jahre – abgeleitet aus dem Vergleich der Renditen von nominalen und inflationsindexierten Anleihen mit 10-jähriger Laufzeit – für deutsche Bundesanleihen und US-Staatsanleihen. Ein Blick darauf legt nahe, dass die Märkte im letzten Jahrzehnt meist von höheren Inflationsraten für die USA als für Deutschland ausgegangen waren. Aber nachdem die Inflation nun Deutschland und Europa besonders hart getroffen hat, scheinen die Märkte davon auszugehen, dass Europa ein Jahrzehnt lang höhere Inflationsraten verzeichnen wird. Wäre das vielleicht ein Indiz, dass die Europäische Zentralbank (EZB) große Anstrengungen unternehmen sollte, um ihre Glaubwürdigkeit zu verteidigen, vielleicht sogar noch mehr als die US-Notenbank (Fed)?
An den Anleihemärkten übertreffen die Inflationserwartungen für Deutschland mittlerweile die für die USA.
Quellen: Bloomberg Finance L.P., DWS Investment GmbH; Stand: 20.09.2023
So weit würden wir nicht gehen. „Die EZB hat viele gute Gründe, sich gegen die Inflation zu wehren. Je nach den eingehenden Daten wird sie aus unserer Sicht die Zinsen wahrscheinlich noch eine ganze Weile hoch lassen. Aber die vom Markt abgeleiteten Inflationserwartungen sind nur eine von vielen Messgrößen, die sie in den kommenden Monaten genau beobachten wird und wahrscheinlich nicht mal eine der wichtigsten aus ihrer Sicht“, erklärt Ulrike Kastens, Senior Economist Europe bei der DWS.
Zum einen sind die Inflationserwartungen des Marktes selbst recht volatil.[2] Zum anderen sind rationale Inflationserwartungen nützliche theoretische Konstrukte, um nachvollziehbare Modelle für die Funktionsweise von Volkswirtschaften zu entwickeln. Aber sie zu postulieren ist kein Ersatz dafür zu untersuchen, wie Löhne und Preise im wirklichen Leben festgelegt werden oder wie Erwartungen in einem bestimmten Land in der realen Welt entstehen. Die Struktur indexierter Anleihen, ganz zu schweigen von der Marktliquidität, unterscheidet sich nicht nur zwischen den USA und Deutschland, sondern auch innerhalb der Eurozone. Auch in den verschiedenen Ländern des gemeinsamen Währungsraums herrscht eine recht unterschiedliche Dynamik. Transatlantische Vergleiche kleiner Unterschiede im Zeitverlauf mit nur einem, zugegebenermaßen wichtigen, Land, sind für europäische Geldpolitik ziemlich bedeutungslos. Und schließlich ist es ganz allgemein überraschend schwer, Inflation „richtig“ zu messen.[3] Wir hoffen, dass die erfahrenen Ökonomen der EZB das wissen und erkennen, dass die Finanzmärkte nicht immer ganz so rational und gut informiert sind, wie manche Wirtschaftskommentatoren mitunter zu glauben scheinen.