Vor drei Monaten wähnten wir im Vorfeld der italienischen Parlamentswahlen, dass Italien "die Märkte durchaus erneut überraschen" könnte. In unserem Ausblick "Italien: Irrungen und Wirrungen" warnten wir davor, zu viel in die italienischen Wahlprognosedaten hinein zu interpretieren. "Viele Marktteilnehmer [scheinen] wohl das Risiko, dass Fünf-Sterne, die Lega und vielleicht auch die nationalistischen Brüder Italiens besser als erwartet abschneiden", zu unterschätzen, fürchteten wir damals.
Die systemkritischeFünf-Sterne-Bewegung und die Rechtsaußen-Bewegung Lega haben anschließend tatsächlich den Wahlsieg nach Hause getragen. Jetzt, wo diese beiden Parteien kurz davor stehen, Italiens neue Regierung zu bilden, würden wir dazu raten, der Situation ähnlich vorsichtig zu begegnen und die kurzfristigen Folgen nicht zu über-, und die langfristigen Folgen nicht zu unterschätzen. Den 58-seitigen "Vertrag für eine Regierung des Wandels", der Kern des am Montag vorgestellten Regierungsprogramms, würden wir etwa nicht zu wörtlich nehmen.
Italien zu regieren ist nicht leicht. Das gilt für den designierten Premierminister Giuseppe Conte noch mehr als für seine Vorgänger. Auch wenn die Regierungskoalition über eine komfortable Mehrheit in der Abgeordnetenkammer verfügt, ist dies im Senat nicht der Fall. Das spiegelt nur eine der vielen Besonderheiten des italienischen Wahlsystems wider, nämlich die Ernennung einiger Senatoren auf Lebenszeit. Da beide Kammern gleichberechtigt sind, reicht eine Handvoll Abweichler, um Gesetzespläne auszubremsen.
Bereits jetzt wurden einige der wirtschaftspolitischen Forderungen aus dem Programm deutlich entschärft. Zu den verbliebenen Kernforderungen gehören: das Einkassieren der Rentenreform aus dem Jahre 2011; eine Grundsteuer in Höhe von 15 Prozent für Einkommen unter 80.000 Euro und 20 Prozent für alle anderen; ein Grundeinkommen. Die entsprechenden Ausgabensteigerungen könnten zusammen mit der Minderung der Steuereinnahmen das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um fünf Prozent belasten. Allerdings stehen zahlreiche italienische und europäische rechtliche Hürden einem allzu großzügigen Fiskalpaket im Wege.
Es wird jetzt sehr auf die Details ankommen. Wie etwa soll der Ruf der Koalitionäre nach einer Revision der Basler Bankenregeln interpretiert werden? Und welche Form soll das Grundeinkommen annehmen? Im jetzigen Vorschlag werden lediglich Arbeitssuchende berücksichtigt, was dann den Arbeitsmarktreformen einiger europäischer Länder, inklusive Deutschland, recht nahe käme.
Wichtige Signale werden in den kommenden Tagen von den Personalvorschlägen ausgehen, die Conte für sein Kabinett unterbreiten wird. Daran sollte man auch ableiten können, wie autonom er überhaupt agieren kann. Vor allem auf die Wahl des Finanzministers werden die Märkte genau schauen. Auch wird es interessant sein zu sehen, inwieweit das neue Kabinett jenseits der Koalitionsparteien an Zustimmung gewinnen kann, etwa bei der Forza Italia oder den Brüdern Italiens, zwei ehemalige Verbündete der Lega.
Doch egal wie das Kabinett am Ende im Einzelnen aussehen wird, erwarten wir eine unerfahrene und in sich gespaltene Regierung. Dies zeigte sich bereits in den vergangenen Wochen, als man sich unter großem Getöse auf das Regierungsprogramm einigen musste. Mehrmals wurden ausgesprochen unorthodoxe Ideen entwickelt, an die Presse durchgestochen und anschließend wieder einkassiert. Investoren sollten sich darauf einstellen, dass es bei solcherlei effekthascherischen Zwischenrufen bleiben wird, was die Märkte entsprechend nervös machen könnte.
Könnte diese Marktnervosität zu Kaufgelegenheiten führen? Das hängt unserer Meinung nach von der Art der Schlagzeilen und von der Anlageklasse ab.
Im Falle italienischer Staatsanleihen, halten wir die jüngste Ausweitung der Risikoaufschläge zu den Bundesanleihen zwar für gerechtfertigt. Allerdings halten wir es für unwahrscheinlich, dass die Koalition einige ihrer radikaleren Vorschläge überhaupt umsetzen möchte, oder gar könnte. Dazu zählen wir den Forderungsverzicht seitens der EZB für einen Teil der italienischen Staatsanleihen in ihren Büchern, oder die Einführung von Überbrückungsanleihen zur Begleichung kurzfristiger Verbindlichkeiten, sogenannten Mini-BOTs.
Unwahrscheinlich heißt jedoch keinesfalls unmöglich. Investoren sollten sich auch nicht zu sehr auf die Europäische Zentralbank (EZB) verlassen. Das aktuelle Kaufprogramm der EZB wurde mit der Notwendigkeit der Bekämpfung von Deflationsgefahren begründet, und nicht mit der Vermeidung des Ansteigens der Renditen auf Staatsanleihen in einem einzelnen Land, selbst wenn es sich dabei um ein Schwergewicht wie Italien handelt. Für diese Zwecke wurde das Outright-Monetary-Transactions-Programm (OMT-Programm) konstruiert, das "ungerechtfertigten" Redenominierungsrisiken begegnen sollte. Allerdings erfordert die Aktivierung des OMT-Programms die Einhaltung der Bedingungen eines Rettungsprogramms. Hier gibt es erhebliche Zweifel, ob eine von Populisten geführte Regierung das tun dürfte, was damit der EZB die Hände binden würde.
Italienische Aktien profitieren von den positiven Gewinnaussichten. Es sieht danach aus, dass die börsennotierten italienischen Unternehmen innerhalb der Eurozone für 2018 das größte Gewinnwachstum aufweisen sollten. Aktuell sind italienische Titel mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 13 bewertet, während der Durchschnitt in der Eurozone bei 14 liegt. Aggregierte Bewertungskennzahlen sind natürlich immer mit Vorsicht zu genießen. So könnten italienische Banken durch eine Krise am Markt für italienische Staatsanleihen in Mitleidenschaft gezogen werden. Das würde die bekannten Probleme bei den faulen Krediten nur noch verschlimmern, deren Lösung ebenfalls von politischen Entscheidungen der neuen Regierung erschwert werden könnte. Sektoren wie Öl und Luxusgüterproduzenten entwickeln sich hingegen prächtig, diese Unternehmen dürften auch weitgehend immun gegen die politischen Schwierigkeiten sein. Für Stock-Picker sollte sich hier die eine oder andere Opportunität ergeben.
Womit wir zu drei abschließenden Punkten kommen. Bei all der Aufregung über Personalien bei der Kabinettsbildung könnten leicht Themen übersehen werden, die mittelfristig wichtig werden dürften. Erstens, Italien leidet nicht unter mangelnder Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen auf wichtigen Exportmärkten. Wir wundern uns immer wieder, warum bei einem Land mit einem jährlichen Leistungsbilanzüberschuss von 46 Milliarden Euro wiederholt die Wettbewerbsfähigkeit in Frage gestellt wird. Die Verbesserung der italienischen Leistungsbilanz geht auch nicht, wie gerne behauptet wird, nur auf eine schwache Binnennachfrage zurück. Wir halten hingegen Faktoren wie eine ineffiziente und teure Verwaltung sowie eine langsame Justiz für die Hauptprobleme der italienischen Wirtschaft. Hier wären Reformanstrengungen höchst willkommen, welche Regierung auch immer diese auf den Weg bringen möge.
Zweitens finden wir die Unterstützung für das Regierungsprogramm unter den eigenen Anhängern bemerkenswert. Dies könnte einen beträchtlichen Rückenwind darstellen. Als Außenseiter fällt es einer neuen Regierung leichter, verkrustete Strukturen im Land aufzubrechen und damit der italienischen Binnenwirtschaft neues Leben einzuhauchen, die unter einer zu geringen Produktivität leidet. Dabei geht es besonders um Themen wie Korruptionsbekämpfung oder eine höhere Effizienz des Justizsystems. Bisherige Erfahrungen mit Vertretern der Fünf-Sterne-Bewegung auf lokaler Ebene, scheinen jedoch nicht von großen Erfolgen gekennzeichnet zu sein. Dass die Wahl für den neuen Ministerpräsidenten auf Guiseppe Conte fiel, ist jedoch ein positives Zeichen. Es ist gut vorstellbar, dass die neue Regierung die (bescheidenen) Erwartungen an sie übertreffen kann.
Unsere dritte Schlussfolgerung über die langfristigen Implikationen geht weit über so manchen unausgegorenen Vorschlag, über die prekäre Lage bei den Staatsfinanzen oder über mögliche Neuwahlen hinaus. Zum wiederholten Male haben die italienischen Wähler einer Politik der Mitte mit pro-europäischer Agenda eine Abfuhr erteilt. Wir erwarten zwar keine kurzfristigen Bestrebungen hin zu einem Austritt des Landes aus der Eurozone. Dass die Italiener aber so schnell wieder ihre Liebe zu Europa und der Gemeinschaftswährung entdecken, dürfte unrealistisch sein. Eher könnte es schon zu einer Entwicklung kommen, die der amerikanische Journalist Henry Louis Mencken so beschrieben hat: Auf jedes komplexe Problem gibt es eine Antwort, die einfach, bestechend und falsch ist.