14. Sep 2020 Wahlen

US-Wahlen 2020: Alles scheint offensichtlich, sobald man die Antwort kennt.

Die bevorstehenden US-Wahlen dürften als die wichtigsten Wahlen seit 1980 in die Geschichte eingehen.

Peter Doralt

Peter Doralt

Political Analyst, Macro Group
  • In unserem Hauptszenario sehen wir eine Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent, dass Biden Präsident wird und 42 Prozent, dass die Demokraten sowohl die Präsidentschaft als auch beide Kongresskammern gewinnen. Damit bleibt die geteilte Regierung der aus unserer Sicht wahrscheinlichste Wahlausgang.
  • In der weitergehenden Analyse werfen wir einen Blick in die Geschichtsbücher und untersuchen, was wir aus dem 1980 von Ronald Reagan errungenen Wahlsieg heute noch ableiten können.
  • Abschließend fragen wir uns, wie es um das zuletzt vielgescholtene politische System der Vereinigten Staaten insgesamt steht? Hier bleiben wir in diesem ungewöhnlichen Wahljahr vorsichtig optimistisch.
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Stellen Sie sich folgende Szene vor:

Im Oval Office scharen sich die engsten Berater um den Präsidenten. Es bleibt etwa ein Jahr bis zu seiner Kandidatur für die Wiederwahl. Die Umfrageergebnisse sind nicht berauschend. Aber die waren beim letzten Mal auch nicht viel besser. Für das gesamte politische Establishment war der Wahlsieg des Präsidenten eine Riesenüberraschung. „Jeder, nur nicht er!“ Mit diesem Verzweiflungsschrei versuchten die letzten verbliebenen Gegner das Ruder herumzureißen. Einflussreiche Vertreter des Establishments taten alles Menschenmögliche, um ihn zu stoppen. Aber es war schon zu spät. Der Wähler hatte gesprochen.

Mitglieder der alten Garde äußerten während der gesamten ersten Amtszeit des Präsidenten immer wieder ihr Missfallen. Hochrangige Regierungsbeamte verweigerten die Mitarbeit. Aber das war zu erwarten gewesen. Der Präsident war ja nicht nur als Außenseiter, sondern auch als Außenstehender angetreten. Er hatte keine Ahnung vom Regieren oder von Washington. Der Präsident und sein neuer Stabschef (und ehemaliger Wahlkampfstratege) waren die ersten, dies freimütig zu bekennen. Aber genau das hatte den Wählern offensichtlich gefallen. Ein Reformer ohne Dreck am Stecken.

Noch haben sie ein Jahr, und der Präsident und sein Team sind zuversichtlich, ihren Erfolg wiederholen zu können. Genau in diesen Augenblick platzt eine Krise historischer und bislang unvorstellbarer Dimension. Und ändert alles. „Von da an“, sagte der Präsident später zu seinem Stabschef, „kam eine Krise nach der anderen.“

Um sich diese Szene vorzustellen, brauchen Sie noch nicht einmal viel Phantasie. Denn das Jahr, um das es hier geht, ist Geschichte – graue Vorzeit sozusagen für alle, die 2020 in der Mitte des Lebens stehen. Und zum Glück hat uns der wichtigste Berater des damaligen Präsidenten, Hauptstratege und Stabschef des Weißen Hauses, Hamilton Jordan, eine anschauliche Beschreibung hinterlassen, geschrieben in einem Zeitalter, bevor Memoiren den Buchmarkt überschwemmten. Jordans Buch „Crisis: The Last Year of the Carter Presidency“ (Krise: Das letzte Jahr der Präsidentschaft Carters)[1] ist eine ausgesprochen fesselnde Lektüre. Es ist das erste von mehreren, in diesem CIO Spezial empfohlenen Büchern und endet am 20. Januar 1981 mit der Ankunft von Ronald Reagan und seinem Team im Weißen Haus. Jordan befindet sich an Bord der Air Force One und steckt mitten in der iranischen Geiselkrise, die auf die Islamische Revolution in Iran und den Fall des Schahs folgte. (Die zweite große Krise in diesem Jahr war der Einmarsch der Sowjettruppen in Afghanistan.) Während eines Telefongesprächs wird ihm plötzlich bewusst, dass Carter nicht mehr Präsident ist, eine neue Mannschaft jetzt die Regierungsverantwortung übernommen hat und er, Jordan, seinen Job los ist.[2]

Die Wahlen 2020 dürften in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich sein. Dennoch gehen wir davon aus, dass nach der Wahl eine ganz normale Amtseinführung des neu gewählten US-Präsidenten folgen wird, wie nach allen Wahlen seit der Amtseinführung von George Washington am 30. April 1789. Der amtierende Präsident wird entweder wiedergewählt oder sein Amt friedlich übergeben. Wegen der Covid-19-Pandemie könnte es etwas länger dauern, bis die Wahlergebnisse feststehen. Sollte das Rennen um die Mehrheit im Senat sehr knapp ausfallen, dürfte erst nach dem 5. Januar 2021 klar abzusehen sein, wie die neue – oder alte – Regierung regieren wird.

Schließlich noch einige Worte dazu, was in diesem CIO Spezial behandelt wird und wie es sich von einem ähnlichen Beitrag aus 2016 unterscheidet. Damals haben wir uns unter anderem mit dem politischen System in den Vereinigten Staaten und demografischen Entwicklungen befasst. Wir gingen auch der Frage nach, warum Anleger nicht allzu sehr auf Wahlkampfversprechen bauen sollten, vor allem, was die Folgen für einzelne Branchen betrifft. Eine neue Regierung braucht in der Regel etwas Zeit, bevor sie wirklich mit der Arbeit beginnen kann. Politische Prioritäten ändern sich, je nach den aktuellen Umständen. Und bei der Verabschiedung von Gesetzen oder Haushaltsentwürfen läuft ohne den Kongress sowieso praktisch nichts. Ausführlich erklärt wurde in unserem CIO Spezial 2016 außerdem die Entwicklung der US-Politik seit den 1980er Jahren und warum politische Handlungsunfähigkeit aufgrund der häufig wechselnden Mehrheitsverhältnisse im Kongress zu einem ständigen Ärgernis geworden ist. Keines dieser längerfristigen, strukturellen Merkmale hat sich seitdem wesentlich verändert. Stattdessen betonen wir diesmal Dinge, die wir seitdem dazugelernt haben.

Bereits im Januar 2020 hatten wir außerdem einen frühen Wegweiser für die Entwicklung der Politik in den Vereinigten Staaten 2020 und darüber hinaus skizziert. Sie analysiert unter anderem die Ergebnisse von 2016, erklärt, warum US-Meinungsforschern vertraut werden kann (und sollte) und stellt einige unserer bevorzugten Informationsquellen und Indikatoren vor, die es sich lohnt zu beobachten. Im vorliegenden Beitrag werden gelegentlich längere Passagen daraus zitiert, um zu zeigen, wie sich unsere Argumentation weiter entwickelt hat.

Am Ende dieser Einleitung sei darauf verwiesen, dass dieses CIO Spezial erst der Anfang unserer Berichterstattung zum US-Wahlkampf ist. Wir beabsichtigen auch, wöchentlich oder alle zwei Wochen die neuesten Ereignisse im weiteren Verlauf des Wahlkampfs zu kommentieren. Dieses CIO Spezial wird daher nicht näher auf einzelne Wettkämpfe um Kongressmandate eingehen. Es ist vielmehr ein erster Versuch, die diesjährigen Wahlen in einen historischen Zusammenhang zu stellen. 2020 könnte als das wichtigste Wahljahr seit 1980 in die Geschichte eingehen.

Lesen Sie das komplette CIO Special unten

Unser CIO Special zu den US-Wahlen 2020

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1. Jordan, H., 1982, Crisis: The last year of the Carter presidency, G.P. Putnam's Sons

2. Aufgrund der Covid-19-Beschränkungen hat der Hauptverfasser dieses Beitrags seit Anfang März keinen Zugang zu einigen der erwähnten Quellen und zitiert daher aus dem Gedächtnis. Etwaige Ungenauigkeiten bitten wir deshalb zu entschuldigen.

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