Der in diesem Jahr prall gefüllte Wahlkalender in Europa macht es gar nicht so leicht zu entscheiden, welcher Urnengang besondere Aufmerksamkeit verdient. Für Spaniens Richtungswahl gilt das auf jeden Fall. In diesem Beitrag beleichten wir die Ausgangslage – und bieten einen ersten Ausblick aus Sicht der Finanzmärkte für die Zeit danach.
1. Parteien und Wahlprognosen
Worum geht es eigentlich? Am 28. April 2019 stehen alle Sitze im Abgeordnetenhaus und 208 der 266 Sitze im Senat zur Wahl. Nach den Umfragen liegt die Mitte-Links-Partei von Ministerpräsident Pedro Sánchez, die Spanische Sozialistische Arbeiterpartei PSOE ("Partido Socialista Obrero Español") vorne – und dies recht stabil seit dem Sommer letzten Jahres. In den letzten Monaten konnte der PSOE weiter zulegen und erreicht aktuell um die 29 Prozent.[1] Die Umfrageergebnisse sind somit besser als das Wahlergebnis des PSOE 2016 mit knapp unter 23 Prozent, liegen aber deutlich unter dem von Beginn der 1980er Jahre bis 2008 erreichten Stimmenanteil von etwa 40 Prozent.
Nach dem Tod von Militärdiktator Francisco Franco 1975 und dem Übergang Spaniens zur Demokratie erschien der PSOE lange Zeit als natürliche Regierungspartei. Insgesamt beinahe 22 Jahre lang stellte er den im Moncloa-Palast residierenden Ministerpräsidenten. Mehrmals führten die Sozialisten Minderheitsregierungen an, die in der Regel von verschiedenen regionalen und nationalistischen Parteien unterstützt wurden. Daher ist die Tatsache, dass die scheidende Minderheitsregierung unter Sánchez mit kleineren Parteien aus dem Baskenland, Katalonien und der Region Valencia paktieren musste, für Spanien nicht besonders ungewöhnlich. Der restliche politische Hintergrund jedoch sehr wohl.
Die Sozialistische Arbeiterpartei kehrte im Juni 2018 an die Macht zurück, nachdem sie die Regierung der Mitte-Rechts-Volkspartei Partido Popular (PP) unter Mariano Rajoy – seit 2011 Ministerpräsident – durch einen Misstrauensantrag gestürzt hatte. Zum Verhängnis wurde Rajoy schließlich ein Parteifinanzierungs- und Korruptionsskandal, der nach dem Urteil der Audiencia Nacional, des Nationalen Gerichtshofs von Spanien, "bis mindestens 1989" zurückgeht.[2]
Sowohl PP als auch sein traditioneller Rivale PSOE waren im Lauf der Jahre ebenso wie einige der regional starken kleineren Parteien in Korruptionsskandale verwickelt.[3] Da der PSOE in den letzten Jahren auf nationaler Ebene nicht in der Regierungsverantwortung stand, richtete sich der Zorn der Wähler über die Korruption und die "abgehobene" politische Klasse zuletzt vor allem gegen die Volkspartei PP. Seit der Entmachtung Rajoys dümpelte der PP bei Umfragen um die 20 Prozent – im Vergleich zu 33 Prozent bei der letzten Parlamentswahl.
Die jüngste politische Geschichte Spaniens lässt sich als eine Reihe miteinander verknüpfter populistischer Revolten verstehen, die eine zunehmende Fragmentierung des spanischen Parteiensystems ausgelöst haben. Lassen wir vorerst die Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens (Thema des letzten Abschnitts) außer Acht und konzentrieren uns auf das restliche Spanien. Die Weltwirtschaftskrise, die 2008 begann, Rettungsaktionen für Banken und steigende Arbeitslosigkeit verhalfen der Volkspartei 2011 zum Sieg – genau wie man es im traditionellen Zweiparteiensystem Spaniens erwarten konnte.
Unpopuläre Sparmaßnahmen, Korruptionsskandale und ein kraftloser PSOE öffneten dann 2014 Tür und Tor für eine linkspopulistische Alternative. Eilig beschritt die Anti-Spar-Partei Podemos ("Wir können") diesen Weg. Bei der Parlamentswahl 2016 errang sie gemeinsam mit anderen links angesiedelten Verbündeten 21 Prozent der Wählerstimmen. Dieser Anteil schrumpft seitdem stetig, vor allem seit Podemos im letzten Sommer zum Sturz der Regierung Rajoy beigetragen hatte und die Minderheitsregierung von Pedro Sánchez zu unterstützen begann. Derzeit liegt Podemos in Umfragen bei 13 Prozent.
Mit 15 Prozent liegt Ciudadanos ("Bürger"), ein weiterer Neuling in der politischen Landschaft Spaniens, leicht vor Podemos. Ciudadanos lässt sich am besten als zentristische, liberale und stark pro-europäische Partei verorten. Podemos und Ciudadanos haben völlig konträre politische Positionen, vor allem in wirtschaftlichen Fragen. Trotzdem fanden Politikwissenschaftler überraschende Gemeinsamkeiten im Wählerverhalten und im Misstrauen gegenüber den "herrschenden Eliten" manifestiert.[4]
Schließlich ist die weit rechts angesiedelte Vox zu erwähnen. Von ehemaligen PP-Mitgliedern 2013 gegründet, trat sie bis vor kurzem weder in Meinungsumfragen noch bei verschiedenen Wahlen sonderlich stark in Erscheinung. Der Durchbruch gelang im Dezember 2018, als sie bei der Regionalwahl in Andalusien 11 Prozent erreichte. Bei nationalen Umfragen liegt Vox aktuell im Durchschnitt ebenfalls bei 11 Prozent. Bemerkenswert ist allerdings, dass die jüngsten Umfrageergebnisse eine für eine so kleine Partei ungewöhnlich hohe Schwankungsbreite aufwiesen – von unter 8 bis beinahe 13 Prozent.
2. Das Wahlsystem
Es hat sich zum Modetrend entwickelt, Meinungsforscher nicht mehr ernst zu nehmen. Wie an anderer Stelle argumentiert, wären dies aber die falschen Schlüsse aus Ereignissen wie dem Brexit-Referendum 2016 oder der US-Präsidentschaftswahl im selben Jahr. Umfragefehler in der Größenordnung von einigen Prozentpunkten stimmen mehr oder weniger mit der historischen Erfahrung überein. Vor kurzem durchgeführte quantitative Untersuchungen unterstreichen, was wir bereits aus unseren Erfahrungen bei der Prognose verschiedener nationaler Wahlen auf der ganzen Welt vermuteten: Es gibt schlicht keine Beweise dafür, dass die demokratische Welt insgesamt ein Problem mit der Demoskopie hätte. Die Daten legen sogar den Schluss nahe, dass die Genauigkeit der Wahlprognosen in den letzten Jahrzehnten besser geworden ist.[5]
Natürlich sind die Meinungsforscher in manchen Ländern besser als in anderen. Trotz eines recht wechselhaften Parteiensystems scheinen Wahlprognosen in Spanien in der Regel bemerkenswert genau zu sein.[6] Aber eine ungewöhnlich hohe Zahl an Wählern scheint noch unentschlossen, unter ihnen ein besonders hoher Anteil an Wählerinnen.[7] Auch der Zeitpunkt der Wahl könnte eine Rolle spielen, wurde doch der ohnehin schon recht kurze Wahlkampf durch die Osterfeiertage unterbrochen. Zwei Fernsehdebatten der vier größten Parteien am 22. und 23. April könnten ebenfalls zu späten Stimmungswechseln führen.[8]
Das spanische Wahlsystem lässt allerdings Spielraum für Überraschungen, auch wenn die nationalen Wahlergebnisse ungefähr mit den jüngsten Umfragedurchschnitten übereinstimmen sollten. Zur Erinnerung: am 28. April 2019 werden alle Sitze im Abgeordnetenhaus ("Congreso") neu vergeben, und 208 der 266 Vertreter im Senat direkt vom Volk gewählt.
Für das Abgeordnetenhaus, das wichtigste Gesetzgebungsorgan, wird ein Verhältniswahlrecht angewendet, das Parteien, deren Anhänger über das ganze Land verstreut sind, stark benachteiligt. Besonders düster sind die Aussichten für kleine, aber auch mittelgroße Parteien ohne regionale Hochburgen, da die Wähler in jedem der 52 Wahlbezirke des Landes die von ihnen bevorzugte Partei wählen.[9]
Die Zahl der Abgeordneten jedes Wahlbezirks ist in etwa proportional zur jeweiligen Bevölkerungsanzahl. Nach den auf jede Partei entfallenen Stimmen werden die Mandate an die einzelnen Abgeordneten in der Reihenfolge ihres Listenplatzes vergeben.
In der Praxis bedeutet dies, dass eine Stimme für eine der kleineren Parteien in den bevölkerungsärmeren Wahlbezirken häufig eine vergeudete Stimme ist. Nur in einer Handvoll Wahlbezirke, meist im Umfeld großer Städte, werden mehr als zehn Abgeordnete gewählt.[10] In weiten Teilen Spaniens stellt jeder Wahlbezirk fünf oder weniger Abgeordnete. Damit ihre Stimme überhaupt zählt, neigen viele Wähler in den weniger dicht besiedelten Wahlbezirken dazu, sich für eine der (lokal) führenden Parteien zu entscheiden. In der Vergangenheit waren dies die Volkspartei PP, die Sozialistische Arbeiterpartei PSOE und nationalistische Parteien mit einer starken Anhängerschaft in einzelnen Wahlbezirken.
Die weit verbreitete Unzufriedenheit vieler Wähler mit den traditionellen zwei Parteien zeigt sich nun deutlich darin, dass sie dennoch bereit sind, für eine der neueren Alternativen zu stimmen. Aber die aktuelle starke Fragmentierung der Parteienlandschaft dürfte sich mittelfristig als wenig nachhaltig erweisen. Die Politikwissenschaft legt nahe, dass unter dem gültigen spanischen Wahlsystem früher oder später (wieder) zwei große Parteien plus regionale Randparteien entstehen werden.
Dies könnte, zumindest im Senat, bereits 2019 eintreten. Im Senat, dem spanischen Oberhaus, hat jede der Festlandprovinzen genau vier Sitze. So hat Madrid mit 6,5 Millionen Einwohnern im Senat dasselbe Gewicht wie die ländliche Provinz Soria in Zentralspanien mit 90.000 Bewohnern. In jeder dieser Provinzen kann jeder Wähler drei Kandidaten wählen, und jede Partei nominiert in der Regel drei Kandidaten. Im Prinzip kann ein Wähler seine Stimmen auf einzelne Kandidaten aus verschiedenen Parteilisten verteilen. Die meisten Wähler entscheiden sich aber, mit allen drei Stimmen Kandidaten der Partei zu wählen, deren Liste sie auch für den Kongress unterstützen. Somit erringt meistens die größte Partei in jeder Provinz drei der vier Senatsmandate, während ein Sitz an die zweitgrößte Partei geht.
Ähnlich sieht es in den Inselwahlkreisen Spaniens (Balearen und Kanaren) aus, nur dass hier jeder Wahlkreis eine in der spanischen Verfassung festgelegte Anzahl an Senatoren stellt. Neben den 208 vom Volk gewählten Senatoren werden 58 Senatoren von den Regionalparlamenten ernannt. Hierbei wird ungefähr die proportionale Zusammensetzung der Regionalparlamente abgebildet.[11]
Seit 1996 konnte der PP aufgrund der ländlichen Ausrichtung des Senats immer die größte Anzahl der direkt gewählten Senatsmandate für sich beanspruchen. Dies könnte sich 2019 ändern. Nach jüngsten Umfrageergebnissen dürfte der PSOE die Anzahl der 2016 direkt gewählten 43 Senatoren nahezu verdreifachen – die Anzahl der Senatoren des PP dürfte entsprechend deutlich schrumpfen. Leider erheben die meisten Umfrageinstitute keine gesonderten Daten für den Senat. Simulationen zur Verteilung der nationalen Wählerstimmen im Auftrag der zweitgrößten spanischen Tageszeitung El Mundo lassen vermuten, dass der PSOE auf dem besten Weg ist, die Mehrheit im Senat zu erringen.[12]
3. Überraschungen und ein recht deutlicher Sieg für Spaniens Sozialisten möglich
Für den Kongress erwarten viele Beobachter in und außerhalb Spaniens ein nicht eindeutiges Ergebnis, das später im Jahr zu Neuwahlen führen könnte.[13] Wir wären dagegen nicht überrascht, wenn der PSOE sogar noch über den letzten Umfrageergebnissen und vor allem den Mandatsprognosen für Kongress und Senat liegen würde. Unsere Argumentation ist leicht nachzuvollziehen: Der PSOE hat sich erneut als wichtigste Kraft der Linken etabliert, während sich PP, Vox und Ciudadanos die Stimmen der rechten Wähler teilen müssen. Aufgrund des spanischen Wahlsystems dürften die Folgen vor allem für die Volkspartei PP im Senat drastisch sein, könnten sich aber auch im Kongress negativer auswirken als von vielen Beobachtern erwartet. Ähnliches trifft für Vox und Ciudadanos zu.
Schwer vorhersehbar ist das Abschneiden von Vox am Wahltag sowie die Verteilung ihrer Wählerstimmen. Wie bei Podemos und in gewissem Maß auch bei Ciudadanos scheinen die Wähler mit ihrer Stimme für Vox vor allem ihrem Ärger Luft zu machen. Taktische Überlegungen zu den möglichen Auswirkungen dieser Wahlentscheidung spielen wohl nur eine untergeordnete Rolle. Sowohl bei den Parteien als auch den Prognostikern und den Wählern herrscht große Unsicherheit über das Abschneiden von Vox in den einzelnen Wahlbezirken.
Wir sehen in Wählerstimmen für Vox bei dieser Wahl vor allem einen Ausdruck des Protests gegen und daher hauptsächlich auch auf Kosten des PP. Einige Beobachter neigen vielleicht auch zur Überbewertung des erfolgreichen Abschneidens von Vox bei den Regionalwahlen in Andalusien im Dezember 2018. Damals war die Wahlbeteiligung äußerst gering. Seit Gründung der Autonomen Gemeinschaften 1982 hatte der PSOE das regionale Parlament kontrolliert. Die lokalen Führungspersönlichkeiten des PSOE trugen in dieser Zeit ihr Scherflein zu den Korruptionsskandalen bei.[14] Die Erfahrungen mit ähnlichen Protestparteien in anderen Ländern zeigen, dass ein Durchbruch bei regionalen Wahlen nicht unbedingt zu ähnlichen Gewinnen bei nationalen Wahlen mit einer höheren Wahlbeteiligung führt.
Aber das heißt nicht, dass Vox nicht in der Lage wäre, mittelfristig einen ähnlich hohen Anteil an Wählerstimmen zu gewinnen wie rechtspopulistische Parteien in anderen Ländern. Alternativ und eher der Logik des spanischen Wahlsystems entsprechend könnte letzten Endes durch eine Verschmelzung von Vox und PP eine weiter rechts stehende, stärker nationalistisch und euroskeptisch ausgerichtete Alternative zum PSOE entstehen. Für diese Entwicklung spricht eine immer stärkere Abwanderung der spanischen Bevölkerung aus den ländlichen Gebieten.[15] Eine vor kurzem ins Leben gerufene Protestbewegung, von ihren Organisatoren "Revolte eines entvölkerten Spaniens" genannt, weist einige interessante Parallelen zu den Protesten der Gelbwesten in Frankreich auf. Auf längere Sicht könnte eine derartige Partei vom spanischen Wahlsystem profitieren. Sie würde von ländlichen Wählern, die sich abgehängt fühlen, unterstützt – ähnlich wie dies bei Trump, dem Brexit und dem relativ guten Abschneiden der rechtsextremenFreiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) bei der letzten Präsidentschaftswahl in Österreich der Fall war.
Allerdings bezweifeln wir, dass schon dieses Mal Parteien des rechten Spektrums profitieren könnten. Wir gehen davon aus, dass eventuelle Überraschungsgewinne der Vox durch Stimmen- und Mandatsverluste des PP und vielleicht der Ciudadanos, die schwächer als erwartet abschneiden könnten, mehr als ausgeglichen werden. Natürlich geht die Unsicherheit bei Vox wie bei jeder anderen neuen Protestpartei in beide Richtungen: Sie könnte besser, aber auch schlechter abschneiden als nach den jüngsten Umfrageergebnissen. Eher für Letzteres spricht, dass Rechtspopulisten auch in anderen Ländern häufig erst im zweiten oder dritten Anlauf den Durchbruch auf nationaler Ebene erzielen konnten.
Im aktuellen Wahlkampf positioniert sich Vox hauptsächlich als Provokateur. Hierzu gehört die Nominierung von zwei Militärgenerälen im Ruhestand, die im letzten Jahr ein Manifest mit Lobeshymen auf Francisco Franco unterzeichneten.[16] Ein anderer Kandidat hat den Holocaust verharmlost und behauptet, die Bombardierung der baskischen Stadt Gernika 1937 durch die deutsche Legion Condor sei "ein Mythos, den die Times konstruierte, um das britische Programm zur Wiederaufrüstung zu rechtfertigen".[17] Zu ihren politischen Prioritäten gehört die Aufhebung des Gesetzes gegen häusliche Gewalt (weil es "Männer diskriminiere").[18] Und die unmittelbar nach den tödlichen Schüssen in Moscheen in Neuseeland erhobene Forderung, die spanischen Schusswaffengesetze zu lockern, damit Spanier sich und ihr Heim verteidigen können.[19]
Ob irgendetwas davon den harten Wählerkern von Vox erschüttern kann, bleibt abzuwarten. Jedenfalls könnte es aber durchaus Vox-Gegner zu den Wahlurnen treiben. Durch Vox werden sowohl PP als auch Ciudadanos weiter nach rechts gedrängt. Der PP hat mit seinem neuen und weitgehend unerfahrenen Parteivorsitzenden deshalb wiederholt das Thema der Abtreibung auf den Tisch gebracht. All dies verschaffte dem Sozialisten Pedro Sánchez die Möglichkeit, den PSOE als natürliche Wahl all der Wähler zu porträtieren, die die Geister der Vergangenheit Spaniens fürchten.[20] Ein solider Wahlkampf mit besonderer Betonung der wirtschaftlichen Anliegen der Mittelschicht könnte auch Unentschlossene, die von den jahrelangen Sparmaßnahmen die Nase voll haben, überzeugen.[21]
4. Katalonien und die breitere Bedeutung der spanischen Wahl
Im letzten CIO View merkten wir an, dass die aktuelle politische Situation in den Demokratien auf der ganzen Welt treffend als " die Rückkehr der Geschichte " beschrieben werden kann. Dies scheint für Spanien besonders relevant und könnte auch auf die Europawahl im Mai 2019 zutreffen.
In Spanien verlaufen die Trennlinien des Wahlkampfs 2019 nicht so sehr zwischen rechten und linken oder zwischen pro-europäischen und euroskeptischen Kräften. Ciudadanos ist zum Beispiel in sozialen Fragen eher progressiv und pro-europäisch eingestellt. Das Gegenteil lässt sich von Vox behaupten. Beide sind sich allerdings darin einig, dass sie die "Separatisten" Kataloniens in die Schranken weisen wollen.[22]
Stattdessen beobachten wir eine Rückkehr von Fragen, die die Geschichte der Iberischen Halbinsel seit mindestens 500 Jahren bestimmen: Wie soll Spanien regiert werden? Wie viel Zentralisierung ist nötig? Und wie viel Zentralisierung ist in Anbetracht der regionalen, linguistischen und kulturellen Vielfalt überhaupt machbar? Diese Fragen sind natürlich auch in vielen anderen (großen) EU-Mitgliedsstaaten latent. Wie sie sich weiter entwickeln, wird weitgehend von der jüngsten und auch der schon weiter zurückliegenden Geschichte abhängen.
Im Fall Spaniens ist wohl besonders bemerkenswert, wie spät und wie heftig die separatistischen Tendenzen in Katalonien aufgebrochen sind. In diesem Beitrag können die Gründe hierfür nur kurz erklärt werden. Andrew Dowling, einer der führenden Forscher zur Geschichte Spaniens und ihrer aktuellen Bedeutung, führt in einem kürzlich veröffentlichten äußerst interessanten Buch aus, "dass Katalonien bis vor 15 Jahren von Wissenschaftlern als Region mit einem nicht auf Abspaltung ausgerichteten Nationalismus beschrieben und analysiert wurde."[23] Oder anders gesagt: Das spanische Modell der Dezentralisierung schien erfolgreich und sogar als Vorbild für andere europäische Länder geeignet.
Dies begann sich in den 1990er Jahren zu ändern, als die Volkspartei eine stärkere Zentralisierung der Machtbefugnisse in Madrid anstrebte. 2006 wurde unter der PSOE-Regierung ein neues Autonomiestatut verabschiedet, aber ein umstrittenes Urteil des spanischen Verfassungsgerichts beschnitt die katalanische Autonomie drastisch.[24] Ab 2008 wurde das katalanische Streben nach mehr Autonomie, wenn nicht gleich völliger Unabhängigkeit, durch die Finanzkrise verstärkt. Ein unabhängiges Katalonien könnte sich verheerend auf die Wirtschaft sowohl Spaniens als auch Kataloniens auswirken.[25] Ciudadanos formierte sich anfänglich, um diese Abspaltung zu verhindern. Dies erklärt die Positionierung im aktuellen Wahlkampf gegen den PSOE. Die Gründung von Vox war wiederum teilweise die Reaktion auf ein ohne Genehmigung aus Madrid durchgeführtes – und recht chaotisches – Referendum katalanischer Nationalisten im Oktober 2017.
Sollte sich unsere Prognose eines relativ deutlichen Wahlsiegs des PSOE bestätigen, könnte dies mittelfristig zu einer Deeskalation des katalanischen Konflikts beitragen. Die Sozialisten und ihre Verbündeten dürften genügend Senatsmandate gewinnen, um jeglichen Versuch einer Direktherrschaft aus Madrid in Katalonien zu unterbinden. Nach der spanischen Verfassung könnte sich auch die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts sehr schnell ändern.[26]
Die Märkte würden Anzeichen einer politischen (und nicht auf dem Rechtsweg erreichten) Lösung des Konflikts sicherlich begrüßen. Schon seit geraumer Zeit handeln spanische Staatsanleihen eher wie die der stabileren Mitgliedsstaaten der Eurozone als wie die ehemaliger Krisenländer. Für Rating-Agenturen wird es entscheidend sein, ob wir unter einer neuen spanischen Regierung einen Anstieg der Ausgaben sehen. Darüber hinaus könnte ein Sieg des PSOE die Chancen der Mitte-Links-Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament erhöhen. Eine gestärkte Mitte-Links-Regierung in Madrid könnte auch den Diskussionen über Sparmaßnahmen und breiter angelegte Reformen der Eurozone eine neue Richtung geben. Aber auch hier gilt unsere Warnung, dass sich Ereignisse in einem EU-Mitgliedsland nicht einfach auf andere übertragen lassen.
1 . Gute Ausgangsdaten für Wahlprognosen in Spanien und anderen Ländern liefert europaweit Poll of Polls mit Aggregationsmodellen https://pollofpolls.eu/ES
2 . Nähere Einzelheiten unter https://www.theguardian.com/world/2018/may/24/court-finds-spain-ruling-party-pp-benefited-bribery-luis-barcenas; https://www.corruptioneurope.com/case/g%C3%BCrtel-case; https://www.theguardian.com/news/2019/mar/01/spain-watergate-corruption-scandal-politics-gurtel-case; und https://www.theguardian.com/world/2018/jun/01/fall-of-mariano-rajoy-gurtel-spain;
3 . https://www.transparency.org/news/feature/after_guertel_what_next_for_spains_struggle_with_political_corruption
4 . Anduiza, E, Guinjoan, M. und Guillem, R. (2018), „Economic Crisis, Populist Attitudes, and the Birth of Podemos in Spain“, (Wirtschaftskrise, populistische Einstellungen und der Aufstieg von Podemos in Spanien) in Giugni, M. und Grasso, M., Citizens and the Crisis: Experiences, Perceptions, and Responses to the Great Recession in Europe (Bürger und die Krise: Erfahrungen, Wahrnehmungen und Reaktionen auf die Große Rezession in Europa) (Palgrave Studies in European Political Sociology), S. 61-81
5 . Umfassend untersucht wurde die Umfragegenauigkeit weltweit von Jennings, W. und Wlezien, C. (2018) „Election polling errors across time and space,“ (Wahlprognosefehler über Zeit und Raum) in: Nature Human Behaviour Band 2, Ausgabe 4, S. 276-283
6 . Jüngste Zahlenspielereien der größten spanischen Tageszeitung El País mit den Daten aller Wahlen seit 1986 ergaben eine durchschnittliche Abweichung von nur etwa 2 Prozent vom Umfragedurchschnitt jeder einzelnen Partei in der letzten Wahlkampfphase. Nähere Einzelheiten unter https://elpais.com/politica/2019/04/08/actualidad/1554742089_430037.html und weitere Hintergrundinformationen unter https://elpais.com/elpais/2016/07/08/opinion/1468002744_086098.html sowie http://progressivespain.com/2019/04/09/just-how-reliable-are-spains-pre-election-poll-results/
7 . Siehe beispielsweise https://elpais.com/elpais/2019/04/09/inenglish/1554810504_899111.html
8 . https://elpais.com/elpais/2019/04/17/inenglish/1555485592_606737.html; https://elpais.com/elpais/2019/04/12/inenglish/1555052464_524300.html
9 . Nach Artikel 68 der spanischen Verfassung entsprechen diese den 50 Provinzen des Landes plus zwei autonome Städte (Ceuta und Melilla). Nähere Einzelheiten unter http://www.congreso.es/constitucion/ficheros/c78/cons_ingl.pdf
10 . Madrid, Barcelona und Valencia sind die drei größten Wahlbezirke mit 36, 31 bzw. 16 Abgeordneten bei der Wahl 2016. Siehe Anduiza, E, Guinjoan, M. und Guillem, R. (2018), oben zitiert, S. 67ff, nähere Einzelheiten zu dem von den Autoren recht treffend als „Unverhältniswahlsystem“ bezeichneten Wahlsystem Spaniens.
11 . Das Verhältnis zwischen den Wahlbezirken für den Kongress, den Senat und die Regionalparlamente lässt sich anhand des Beispiels von Katalonien (auch wichtig für den letzten Abschnitt dieses Beitrags) gut veranschaulichen. Die spanische Verfassung unterteilt das Land in 17 Autonome Gemeinschaften („Comunidades Autónomas“) und die beiden autonomen Städte Ceuta und Melilla. Jede dieser regionalen autonomen Gebietskörperschaften repräsentiert eine historisch gewachsene Region und verfügt über legislative und exekutive Kompetenzen. Wie weit diese Kompetenzen reichen, ist allerdings nicht einheitlich geregelt – einer der Hauptgründe für die Streitigkeiten im Fall von Katalonien, auf die wir später zurückkommen. Jede Gebietskörperschaft wählt jedoch ein regionales Parlament mit Gesetzgebungskompetenzen. Die Autonomen Gemeinschaften sind wiederum in administrative Provinzen unterteilt. Katalonien besteht aus vier Provinzen: Tarragona, Girona, Lleida und Barcelona. Diese vier Provinzen sind gleichzeitig die vier Wahlbezirke Kataloniens für Kongress und Senat. Aber nicht jeder Wahlsieg in einer Provinz bedeutet die gleiche Anzahl an Mandaten: Für den Kongress werden in Tarragona und Girona je sechs Abgeordnete gewählt, in Girona vier und in Barcelona – aufgrund der wesentlich größeren Bevölkerung – 31 Abgeordnete. Für den Senat wählt jede Provinz vier Senatoren, also insgesamt 16. Zusätzlich darf das Parlament Kataloniens (als Vertreter der zweitgrößten Autonomen Gemeinschaft des Landes nach Andalusien) acht Senatoren ernennen.
12 . https://www.elmundo.es/espana/2019/03/25/5c96a5c3fdddff60698b4577.html
13 . https://www.economist.com/europe/2019/04/20/reading-the-runes-for-spains-general-election
14 . https://europeelects.eu/2018/11/20/elections-in-andalusia-seen-as-mid-term-test-for-sanchez/
15 . https://elpais.com/elpais/2019/04/01/inenglish/1554107629_170580.html
16 . http://progressivespain.com/2019/03/19/vox-fields-pro-franco-retired-military-on-candidates-lists/
17 . https://elpais.com/elpais/2019/03/20/inenglish/1553076032_593854.html . Die Zerstörung von Gernika wurde durch das Gemälde Pablo Picassos unsterblich und trug zu einer deutlich härteren Gangart gegen das Franco-Regime bei, besonders im Vereinigten Königreich.
18 . https://elpais.com/elpais/2018/12/03/inenglish/1543832942_674971.html?rel=mas
19 . https://elpais.com/elpais/2019/03/21/inenglish/1553170075_849436.html
20 . Andere kleinere Parteien versuchen natürlich ebenfalls, von der Polarisierung zu profitieren. Zur Veranschaulichung http://progressivespain.com/2019/04/17/animal-rights-party-slams-vox-in-campaign-video/
21 . http://progressivespain.com/2019/04/02/pensions-hit-campaign-trail-as-psoe-pp-trade-barbs/
22 . Eine Zusammenfassung der politischen Positionen der verschiedenen Parteien ist zu finden unter https://elpais.com/elpais/2019/04/15/inenglish/1555313118_338133.html?rel=mas
23 . Dowling. A. (2018), The Rise of Catalan Independence: Spain's Territorial Crisis (Kataloniens Streben nach Unabhängigkeit: Spaniens territoriale Krise), Routledge. Einige seiner Kolumnen unter https://www.historytoday.com/miscellanies/catalonia-spain%E2%80%99s-biggest-problem ; https://braveneweurope.com/andrew-dowling-the-late-arrival-of-right-wing-populism-to-catalonia-and-spain ; https://www.ft.com/content/bf9b908c-a788-11e7-ab66-21cc87a2edde
24 . https://www.tribunalconstitucional.es/ResolucionesTraducidas/31-2010,%20of%20June%2028.pdf sowie https://www.theatlantic.com/international/archive/2017/10/catalonia-referendum/541611/
25 . http://www.realinstitutoelcano.org/wps/wcm/connect/01e82708-49a4-463c-a65a-a632517a2e80/Commentary-Chislett-Potential-impact-Catalan-crisis-Spanish-economy.pdf?MOD=AJPERES&CACHEID=01e82708-49a4-463c-a65a-a632517a2e80
26 . Die zwölf Richter des Verfassungsgerichts werden vom spanischen König für eine Amtszeit von neun Jahren ernannt. Alle drei Jahre wird ein Drittel der Richter ersetzt. Je vier Richter werden vom Kongress und vom Senat nominiert (mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit der Mitglieder in beiden Kammern). Von den vier verbleibenden Richtern werden zwei von der Regierung und zwei vom Generalrat der rechtsprechenden Gewalt ("Consejo General del Poder Judicial") nominiert, dem wiederum selbst die einflussreichsten Richter Spaniens angehören (Artikel 122 und 159 der spanischen Verfassung).