Sonntagnacht hat die FDP überraschend die Sondierungsgespräche beendet. In den vergangenen Wochen haben sich vor allem die Energie- und Flüchtlingspolitik (Stichwort Familiennachzug) als Stolpersteine der Verhandlungen erwiesen. Hier lagen insbesondere die Positionen von CDU/CSU und FDP auf der einen Seite und von den Grünen auf der anderen Seite weit auseinander. Aber auch bei der Fiskal- und Umweltpolitik gab es erhebliche Differenzen.
Bislang haben sich die Kapitalmärkte nur wenig beeindruckt von den Berliner Geschehnissen gezeigt. Der Euro hat leicht gegen den Dollar verloren, was, wenn überhaupt den europäischen Exporteuren zugutekommt. Der Dax zeigte sich entsprechend uneinheitlich. Immerhin zeigte sich auf Sektorebene etwas Erleichterung bei den Autowerten und den Versorgern, die aller Wahrscheinlichkeit nach am ehesten die Auswirkungen resoluterer grüner Klimaschutzpolitik zu spüren bekommen hätten.
Diese geringen Schwankungen decken sich mit unserer Überzeugung, dass sich auch durch diese Wendung nur wenig ändern wird. Auch von einer verlängerten Übergangsphase sollte wenig Unruhepotenzial ausgehen, ist das Grundgesetz doch explizit auf die Regierbarkeit des Landes ausgerichtet, auch unter solchen Umständen. Insbesondere stehen Neuwahlen hohe Hürden gegenüber, während der Kompromissfindung unter den Parteien Priorität beigemessen wird. Auch die starke Rolle des Bundesrates, und die verschiedenen in ihm vertretenen Koalitionen tragen dazu bei, dass alle Parteien miteinander im Dialog bleiben.
Angela Merkel bleibt vorerst weiter als geschäftsführende Kanzlerin im Amt. Sie dürfte in den nächsten Tagen versuchen, die SPD für eine Neuauflage der Großen Koalition zu gewinnen. Genau dies haben führende SPD-Funktionäre zwar wiederholt energisch ausgeschlossen, doch dürfte der Druck auf die SPD zunehmen, diese Position zu überdenken. Aber abhängig von der öffentlichen Stimmung könnte sich auch die FDP dazu entschließen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Sollte beides nicht eintreten, lässt Artikel 63 des Grundgesetzes zwei Möglichkeiten offen. Die wohl wahrscheinlichere ist eine Minderheitsregierung. In diesem Fall würden die Unionsparteien einen Kanzlerkandidaten – wahrscheinlich Angela Merkel – bestimmen. Sollte sie dann keine absolute Mehrheit im Bundestag erhalten, hat der Bundestag 14 Tage Zeit, einen anderen Kandidaten zu bestimmen. Danach könnte Merkel mit einfacher Mehrheit gewählt werden. In diesem Fall wäre es dem Bundespräsidenten vorbehalten, der Bildung einer neuen (Minderheits-) Regierung zuzustimmen, oder das Parlament aufzulösen. Letzteres würde Neuwahlen innerhalb von 60 Tagen erfordern, doch wir glauben nicht, dass Frank-Walter Steinmeier dafür optieren würde.
Eine Minderheitsregierung könnte sich zudem als stabiler erweisen als eine Vier-Parteien-Koalition. Zumal nach deutschem Recht die Opposition einen regierenden Kanzler nur mittels konstruktivem Misstrauensantrag aus dem Amt heben kann. Dazu müsste sich die recht heterogene Opposition erst einmal auf einen Alternativkandidaten einigen.
Gleichzeitig wäre eine Minderheitsregierung ein Novum in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dies könnte daher durchaus zu etwas Erstaunen bei politischen Partnern, auch in Brüssel, oder an den Märkten führen. Insgesamt aber glauben wir, könnte eine solche Konstellation für mehr Stabilität und Kontinuität sorgen, als weithin angenommen. Größere Reformen, welche etwa das deutsche Renten- und Bildungssystem benötigen, würden jedoch höchstwahrscheinlich ausbleiben. Doch solange die deutsche Wirtschaft sich weiter in derart starker Verfassung präsentiert, dürften sich die Märkte noch eine ganz Zeit lang darum wenig scheren.