Konservative sind stärkste Partei, scheitern aber an absoluter Mehrheit
Nun steht es fest: die konservative Partei ist gescheitert an der Marke von 326 für die absolute Mehrheit benötigten Sitzen im britischen Unterhaus. Amtsinhaberin Theresa May wird nun wohl versuchen, eine neue Regierung zu bilden. Hier können die Konservativen (die "Tories") auf Schützenhilfe der 10 Abgeordneten (MPs) der protestantischen, pro-Britischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland hoffen, eventuell in einer von der DUP gestützten Minderheitsregierung. Eine solche Vereinbarung wäre weniger formell als die Bildung einer Koalition; die DUP würde vermutlich nicht in der Regierung sitzen, sondern den Konservativen lediglich die Unterstützung bei Abstimmungen im Parlament zusagen.
Noch ist es zu früh, für eine abschließende Beurteilung. Die Risiken sind zahlreich …
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Genau wie ihr Amtsvorgänger David Cameron beim Brexit-Referendum scheint Theresa May ihre Karriere durch vorgezogene Wahlen aufs Spiel gesetzt zu haben – und ist an der Wahlurne gescheitert. Wie lange sie sich nun noch im Amt halten kann, scheint fraglich.
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Die Wahl fand nur wenige Tage vor geplantem Beginn der anstehenden Brexit-Verhandlungen statt. Hätten die Wahlen noch vor Auslösen des Artikel 50 stattgefunden, wäre der "Exit aus dem Brexit" vielleicht noch ein tragfähiges Szenario gewesen – und vermutlich hätte man sich an den Märkten gefreut.
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Dafür scheint es inzwischen reichlich spät. Denn rein rechtlich könnte das Vereinigte Königreich die Austrittsentscheidung nach Artikel 50 ja nicht so einfach mir-nichts-dir-nichts zurücknehmen – wobei nicht ganz klar ist, ob der Europäische Gerichtshof (EuGH) das auch so sehen würde.
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Natürlich ist nun auch die Verhandlungsposition Großbritanniens geschwächt – zum einen durch die Wahlen und zum anderen durch das Auslösen des Artikel 50. Der zweijährige Verhandlungszeitraum ist knapp bemessen für solch komplexe Verhandlungen. Rechtlich gesehen erfordert die Verlängerung des Artikel-50-Prozesses aber wohl jedenfalls einen einstimmigen Beschluss der EU-Staaten. Da müssten Großbritanniens europäische Partner also mitspielen – wobei man sich ja vielleicht zumindest dazu irgendwie einigen könnte.
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Ungemütlich ist nun die Situation mit Hinblick auf die in zehn Tagen anstehenden Verhandlungen mit Michel Bernand Barnier, dem Chef-Verhandlungsführer der Europäer für den Brexit, jedenfalls jetzt da sich die Verhandlungsposition quasi in Luft aufgelöst hat.
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Es wäre trotzdem vorschnell zu urteilen, dass sich nun ein "weicher" Brexit als logische Konsequenz der Gemengelage herauskristallisiert. Das erscheint zwar als das wahrscheinlichste Szenario. Bei solch einer hauchdünnen Mehrheit im britischen Unterhaus hat aber jeder Abgeordnete einiges mitzureden. Und jede einzelne Abstimmung im Parlament hat das Potenzial, die Regierung zu Fall zu bringen, was dann womöglich schon wieder zu Neuwahlen führen könnte. Die Unsicherheit bleibt also hoch, besonders weil ja vollkommen unklar ist, ob und wie lange May noch als Chefin der Tories überleben wird.
…aber vielleicht kommt am Ende ein pragmatischerer Umgang mit dem Brexit heraus
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Soweit so schlecht. Aber aus Sicht der Märkte gibt es auch Positives zu berichten. Die neue konservative Regierung, unterstützt durch die nordirische DUP und womöglich unter neuer Führung, könnte sich für einen pragmatischeren Ansatz in den Brexit-Verhandlungsrunden entscheiden.
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Der Konservativen Partei versüßen zwölf überraschend hinzugewonnene Parlamentssitze in Schottland ihr sonst eher dürftiges Abschneiden. Diese neuen schottischen Abgeordneten könnten sich für ein gemäßigtes Vorgehen bei den Austrittsverhandlungen stark machen. Die pro-britischen Nordiren von der DUP, die zwar im Prinzip für den Brexit stehen, dürften sich für das Fortbestehen der offenen Grenzen zur Republik Irland verwenden. Da diese beiden Gruppen über insgesamt 22 Sitze in Westminster verfügen, könnten sie erfolgreich gegen eine zu harte Verhandlungsführung auftreten.
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Europaskeptische Konservative hingegen könnten geneigt sein, aus Angst vor abermaligen Neuwahlen Zugeständnisse zu machen, zum Beispiel beim Thema Einwanderung. Aus ihrer Sicht wäre ein pragmatisch verhandelter Brexit vermutlich attraktiver als gar kein Austritt aus der EU.
Implikationen des Wahlergebnisses auf Wirtschaft und Finanzmärkte: Höhere Unsicherheit könnte das Pfund und möglicherweise auch britische Anleihen belasten, wir erwarten jedoch keine großen Auswirkungen für die globalen Kapitalmärkte
Die ersten Marktreaktionen bestätigen: die Auswirkungen der Wahl bleiben weitgehend auf die britische Insel begrenzt. Eine aus britischer Sicht dramatische Wahlnacht hat die globalen Märkte weitgehend kalt gelassen. Daher fokussieren wir uns hier auf den britischen Finanzmarkt. Auf der einen Seite ist die Wahrscheinlichkeit für einen „weicheren“ Brexit sowie eine weniger auf Sparen bedachte Fiskalpolitik gestiegen, andererseits erhöht das Wahlergebnis die Unsicherheit, vermutlich sogar auf längere Zeit.
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Britische Staatsanleihen: Die Auswirkungen sind aktuell noch schwer einzuschätzen. In einem positiven Szenario würde eine Abschwächung der Wirtschaft die Nachfrage nach sicheren Staatsanleihen erhöhen. Ein negatives Szenario wäre, dass ausländische Investoren aufgrund der Kombination aus Währungsschwäche, politischer Unsicherheit und Machtvakuum Gelder aus Großbritannien abziehen, oder höhere Risikoprämien verlangen könnten. Die Bank of England würde in diesem Fall wahrscheinlich mittels einer akkommodierenden Geldpolitik gegensteuern.
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Britische Aktien: Hier dürften die Auswirkungen hauptsächlich über die Wechselkursentwicklung kommen. Unternehmen mit hohem Exportanteil sollten profitieren. Zwei andere Effekte könnten sich gegenseitig neutralisieren: politische Unsicherheit könnte dazu führen, dass Unternehmen Investitionsentscheidungen verschieben, auf der anderen Seite könnte ein "weicher" Brexit die Furcht vor negativen Konsequenzen für britische Unternehmen reduzieren.
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Britisches Pfund: Die Währung reagierte mit einem Kursverlust von zwei Prozent auf den Wahlausgang. Aktuell fällt es schwer, positive Faktoren für das Pfund zu identifizieren. Wir bleiben hier daher bei einer vorsichtigen Einschätzung.
Abschließende Gedanken
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Nach unserer Ansicht dürfte es der Labour Party angesichts der Sitzverteilung in Westminster kaum gelingen, eine Regierung zu bilden. Vor dem Hintergrund so mancher, überraschender Wendungen in der jüngeren britischen Zeitgeschichte, würden wir aber das Entstehen neuer, bisher unbekannter Allianzen im Parlament bei einzelnen Sachfragen nicht ausschließen.
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Aus europäischer Perspektive ist es interessant, dass ein Jahr nach dem Brexit-Votum ein wahrscheinlich europafreundlicheres neues Parlament gewählt wurde als es in der letzten Legislaturperiode der Fall war.
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Neben der Europa-Frage könnte auch ein anderes Thema wieder größere Bedeutung in der britischen Politik bekommen: die Irland-Frage. Derzeit ist die von beiden Konfessionsgruppen gemeinsam geführte nordirische Regierung außer Kraft gesetzt. Die Selbstverwaltung wieder einzuführen wird für die neue Londoner Regierung wohl eine ebenso dringende wie knifflige Aufgabe. Auch die katholische, pro-irische Sinn Féin, der traditionelle Gegenspieler der DUP, konnte die Anzahl an Abgeordneten in Westminster auf nunmehr sieben fast verdoppeln. Dabei hat Sinn Féin das Parlament in Westminister bisher boykottiert. Vielleicht wird diese Einstellung in den kommenden Jahren ja hinterfragt, so knapp wie es derzeit in Westminster ist.
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Wieder einmal hat sich gezeigt, wie häufig britische Politiker überrascht werden, von den Finanzmärkten ganz zu schweigen. Teilweise ist daran aus unserer Sicht die sich ständig wandelnde britische Verfassung schuld. Wie schrieb doch schon Walter Bageshot in seiner Analyse zum Thema im Jahr 1867: "die Verfassung ist wie ein alter Mann, der sich noch immer gern mit denselben Kleidern schmückt wie in seiner Jugend. Auf den ersten Blick sieht alles noch immer gleich aus. Nur das, was man vielleicht nicht gleich sieht, hat sich völlig verändert".