Wie hat der internationale freie Handel die jüngsten Angriffe überstanden? Im Mai 2018 kamen wir in einem ausführlichen CIO Special zu dem Schluss, dass "sich die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung auf Jahre hinaus auf Portfoliorenditen auswirken dürften." Einige Monate später wollen wir eine erste Bilanz ziehen und unseren Ansatz aktualisieren. Zu diesem Zweck stellen wir zwei von vier Indikatoren vor, die wir beobachten. Mit Hilfe des ersten Indikators halten wir anhand der tatsächlichen Ereignisse fest, welche neuen Handelsrisiken und -chancen in den letzten Monaten aufgetreten sind. Mit Hilfe des zweiten Indikators untersuchen wir die möglichen Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der betroffenen Länder sowie der Welt insgesamt. Bislang erscheinen diese begrenzt. Der Schlussabschnitt erklärt, warum die scheinbar geringen BIP-Auswirkungen keineswegs beruhigend sind und dass ausgerechnet der amerikanische Steuerzahler und Verbraucher ein wesentlicher Leidtragender sein könnte.
1. Handelsspannungen nehmen weiter zu. China und die USA befinden sich bereits mitten in einem bilateralen Schlagabtausch.
Im Januar verhängten die USA Strafzölle auf Waschmaschinen und Sonnenkollektoren und begründeten dies mit "erheblichen Schäden" für US-Firmen. Diese Zölle betreffen vor allem China, Vietnam, Korea und Malaysia. Unter Berufung auf nationale Sicherheitsinteressen schob die Regierung Trump Einfuhrzölle auf Stahl und Aluminium aus verschiedenen Ländern nach. Dieses Mal traf es nicht nur China, sondern auch traditionelle Verbündete wie die Europäische Union (EU).
Auch Mexiko und Kanada blieben nicht verschont, während die Vereinigten Staaten gleichzeitig das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) neu zu verhandeln suchen. Die NAFTA-Gespräche wurden erst kürzlich wieder aufgenommen, aber ob bis zu den US-Zwischenwahlen am 6. November Fortschritte erreicht werden können, ist ungewiss. Auch anderswo entstehen Spannungen, die die Anleger in den nächsten Monaten in Atem halten dürften.
China reagierte anfänglich mit sehr verhaltenen Gegenmaßnahmen, etwa mit höheren Zöllen auf frische und getrocknete Früchte und Schweinefleischprodukte. Die EU und Kanada wehrten sich mittels Beschwerden bei der Welthandelsorganisation (WTO).
So weit, so gut und relativ harmlos. Aber das ist leider noch nicht alles. Unter Berufung darauf, dass China seit Jahren die geistigen Eigentumsrechte von US-Firmen verletze, verhängte die Regierung Trump Strafzölle in Höhe von 25 Prozent auf chinesische Importe im Wert von 34 Milliarden Dollar. Geplant sind in Kürze weitere Zölle auf Waren im Wert von 16 Milliarden Dollar. Auf einen chinesischen Vergeltungsschlag dürften zusätzliche US-Zölle auf chinesische Importe im Wert von noch einmal 200 Milliarden Dollar folgen. Insgesamt betreffen die bisher von den USA verhängten Zölle, Importe in Höhe von 89 Milliarden Dollar aus aller Welt. Bereits ergriffene oder beabsichtigte Vergeltungsmaßnahmen ihrer Handelspartner betreffen US-Exporte im Wert von 79 Milliarden Dollar. [1]
Und die nächsten Ziele werden bereits anvisiert. Präsident Trump scheint bereit, auf die gesamten chinesischen Importe im Wert von 500 Milliarden Dollar Zölle zu erheben. Dazu kam in den vergangenen Monaten wiederholt die Drohung mit US-Zöllen auf Autos und Autoersatzteile. Das sorgte für viel Verunsicherung, nicht zuletzt unter europäischen Anlegern. Die EU reagierte mit dem Besuch des Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, am 25. Juli in Washington. Dieser Besuch verlief zufriedenstellend – die Strafzölle für die Automobilbranche der EU scheinen abgewendet, zumindest vorerst.
Die Märkte reagierten spürbar erleichtert auf die Juncker-Visite. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass im Grunde genommen nicht sehr viel vereinbart wurde. Große Fortschritte in der näheren Zukunft scheinen äußerst unwahrscheinlich. Für die USA und die EU dürfte der Weg "zu Null Zöllen, Null nichttarifären Handelshemmnissen und Null Subventionen auf Industriegüter außerhalb der Automobilindustrie", wie Präsident Trump sein jüngstes Ziel formulierte, ein langer werden. Vor dem Hintergrund der bisherigen transatlantischen Handelsgespräche und der politischen Realitäten auf beiden Seiten des Atlantiks, dürfte jedes Abkommen in dieser Richtung Jahre dauern. Unser erster Indikator dient als Korrektiv für Überreaktionen der Märkte. Da er sich auf fest angekündigte, durchgeführte oder zurückgenommene protektionistische Maßnahmen beschränkt, werden weder einzelne Treffen noch unverbindliche Aussagen einer der beteiligten Parteien überinterpretiert.
2. Die Auswirkungen auf das globale BIP-Wachstum bleiben überschaubar. Das dürften sich so schnell nicht ändern – ist allerdings auch nicht so ermutigend, wie es auf den ersten Blick erscheint.
Wie schlimm könnten die Auswirkungen der diversen Handelskonflikte sein? Das hängt vor allem davon ab, über welche Kennzahlen man die möglichen Auswirkungen messen möchte. Die meisten Finanzmarktkommentatoren konzentrieren sich auf die Folgen für das globale Wachstum. Doch auch aggressivere Maßnahmen dürften in den nächsten Monaten oder Jahren in der Regel keine allzu dramatischen BIP-Nachwehen haben. Aber dies ist keineswegs beruhigend.
Die Auswirkungen von Handelsspannungen auf das globale BIP lassen sich nicht so einfach und direkt einschätzen. Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass niemand wirklich weiß, wie viele Milliarden Dollar tatsächlich von einer bestimmten Maßnahme betroffen sind. Denn dazu müsste man wissen, wie stark die Käufer einer Ware oder Dienstleistung auf eine durch höhere Zölle verursachte Preissteigerung reagieren werden. Das wiederum hängt davon ab, auf welche Art und Weise Zölle und Zollbefreiungen umgesetzt werden. [2] Und auch davon, ob eine Ware etwas Besonderes oder gar lebensnotwendig ist, und wie leicht ein ähnliches Produkt anderswo zu erhalten ist – ob nun im eigenen Land oder einem anderen, von Zöllen befreiten Land. Mit anderen Worten, es geht um die Substituierbarkeit der betroffenen Waren. Darüber hinaus werden sowohl einheimische als auch ausländische Hersteller auf die neuen Preissignale reagieren. So ist zum Beispiel die EU zu Recht besorgt, dass durch US-Stahlzölle Stahlproduzenten nicht nur direkt geschädigt werden, sondern dass dadurch auch Stahl aus dritten Ländern auf die europäischen Märkte gelenkt werden könnte.
Derartige Effekte sind einer der vielen Gründe, warum nur mit einem CGE-Modell (Computable General Equilibrium) verlässliche Berechnungen erfolgen können. Dabei handelt es sich um eine wissenschaftliche Standardmethode, mit der auf Basis von ökonometrischen Studien und Daten ein theoretisch fundiertes Modell einer Wirtschaft erstellt wird. Das erleichtert die Abschätzung von politischen Maßnahmen und sonstigen Ereignissen, weil auch die indirekten Folgen berücksichtigt werden. In einem CGE-Modell hängt in gewisser Weise jede Kenngröße von jeder anderen ab. Was beispielsweise durch die Einführung von Zöllen in der Güterindustrie eines großen Landes ausgelöst wird, kann sich auch auf Zinsen, Wechselkurse und Beschäftigungslage sowohl im eigenen Land als auch im Rest der Welt auswirken. Wir schränken unsere Aussage "in gewisser Weise" ein, weil ein derartiges Modell die Welt naturgemäß nur vereinfacht abbilden kann. Dieses Modell kann aufzeigen, wie eine nationale Volkswirtschaft und das globale BIP auf Veränderungen in der Handelspolitik reagieren könnten. Wie die die tatsächlichen Reaktionen dann ausfallen, steht jedoch auf einem anderen Blatt.
Zentralbanken und internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) sind überzeugte Nutzer von CGE-Modellen. Aber sie sind sich auch dessen Grenzen bewusst. Ein besonderes Problem liegt darin, dass die Ergebnisse von CGE-Modellen nur so gut sein können, wie die verfügbaren Daten. Für Handelskriege gibt es kaum historische Datenpunkte aus der jüngeren Vergangenheit. Aus der Sicht des globalen Wohlstands ist dies erfreulich, aus der Sicht der Verlässlichkeit der sich hieraus ergebenden Berechnungen leider nicht.
Eines können CGE-Modelle allerdings richtig gut: Sie weisen auf Denkfehler hin, die leicht begangen werden, wenn man die möglichen indirekten Folgen einer Maßnahme ausblendet und nur eine einzelne Variable isoliert betrachtet. So behaupten beispielsweise überraschend viele Finanzanalysten, dass die von den USA verhängten Zölle das Wirtschaftswachstum in den USA tatsächlich ankurbeln könnten, solange die anderen Länder keine Vergeltungsmaßnahmen ergreifen. Sie argumentieren, dass durch Zölle die Importpreise erhöht und dadurch die einheimische Produktion ähnlicher Güter und Dienstleistungen unterstützt würden.
Diese Argumentation ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Drei Einwände sind besonders offensichtlich: Erstens ignoriert sie die Auswirkungen neuer US-Zölle auf den Dollar. Bei flexiblen Wechselkursen wird der reale Wechselkurs des Dollars nach dem CGE-Modell (in Wirtschaftstheorie und -geschichte gut verankert) steigen.[3] Zweitens werden neue Produktionskapazitäten nicht über Nacht wie durch Zauberhand entstehen, zumal der US-Arbeitsmarkt bereits angespannt ist. Vor kurzem hatten wir bereits darauf hingewiesen, dass in den USA nun vermutlich bereits Vollbeschäftigung herrscht.[4] Drittens sind die internationalen Lieferketten deutlich komplizierter, als dies auch das detaillierteste CGE-Modell abbilden könnte. Ein Großteil der chinesischen Exporte in die USA in Höhe von 400 Milliarden Dollar zeigt lediglich, wie begehrt China für die Endmontage verschiedener Produkte ist, die von multinationalen Unternehmen in den USA und Europa entwickelt werden – wie zum Beispiel Smartphones.
Daher werden protektionistische Maßnahmen mit an Bestimmtheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar Effizienzverluste bedeuten. Auch wenn einige der Produkte, die mit Zöllen belegt wurden, durch einheimische Lieferungen ersetzt werden können, dürfte ihre Herstellung zu einer weniger effizienten Verteilung einheimischer Ressourcen führen. Güter und Dienstleistungen werden meist aus gutem Grund importiert. Sie lassen sich anderswo effizienter und billiger kaufen oder fertigen als im eigenen Land. Bezieht oder produziert ein Unternehmen Vorleistungsgüter und -dienstleistungen lieber im Ausland, so dient das der Gewinnmaximierung. Und kauft ein Konsument ausländische Waren, dann deshalb, weil er sie den inländischen Vergleichsprodukten vorzieht. Diese Effizienzgewinne gehen teilweise verloren, wenn der Handel durch höhere Zölle erschwert und verteuert wird. Auf längere Sicht dürfte auch das Produktivitätswachstum leiden. Ein eingeschränkter Wettbewerb verschärft dies noch, wenn beispielsweise erfindungsreiche ausländische Lieferanten oder Konkurrenten außen vor bleiben.
Diese Effizienzverluste lassen sich schwer quantifizieren; sie dürften aber einer der größten Negativposten des Protektionismus sein. Handelskriege erhöhen auch die Unsicherheit (wie werden Lieferketten beeinträchtigt, welche Vergeltungsmaßnahmen werden ergriffen usw.), mit den damit verbundenen negativen Auswirkungen auf die Wirtschaftsaktivität – Firmen geben weniger Geld aus und stellen weniger Personal ein. In unsicheren Zeiten verlangen Investoren höhere Risikoprämien und verschärfen so die Finanzbedingungen.
Und was bedeutet dies alles für das globale Wirtschaftswachstum? Nach den jüngsten Berechnungen des IWF dürften die bislang angekündigten Maßnahmen das globale BIP bis 2020 insgesamt um lediglich ungefähr 0,5 Prozentpunkte verringern.[5] Das Ergebnis könnte auch wesentlich schlechter ausfallen, dennoch sollte die Weltwirtschaft handelspolitischen Gegenwinden trotzen können.
Insgesamt lässt sich das Ergebnis unseres zweiten Indikators so zusammenfassen: Vorerst halten wir es für unwahrscheinlich, dass es zu einer breit angelegten wirtschaftlichen Abschwächung kommt, die für sich genommen Nervosität an den Märkten auslöst. Aber Anleger sorgen sich nicht nur um die unmittelbaren Auswirkungen auf das BIP, sollten die Handelsspannungen aus dem Ruder laufen.
Fazit: Die Märkte dürfte mehr umtreiben, als das globale BIP und die immer noch ferne Drohung einer durch den Handelskrieg ausgelösten US-Rezession.
Das BIP hat als Messgröße für den bereits angerichteten wirtschaftlichen Schaden mehrere Schwächen. Der erste Nachteil: Es misst die Vergangenheit. Dies kann mit Hilfe von Prognosen umgangen werden, die auch jüngste Erkenntnisse aus Unternehmensumfragen oder Finanzmarktindikatoren heranziehen.[6] Solche zeitnahen Daten verwenden wir natürlich ohnehin beim Erstellen unserer Wachstumsprognosen für die USA und andere große Volkswirtschaften. Zum jetzigen Zeitpunkt sehen wir einige Frühwarnzeichen, aber keinen Grund zur Panik. Unsere jüngsten Wachstumsprognosen kommentierten wir kürzlich so : "Aus unserer Sicht sind die Angriffe der Regierung Trump auf den freien Handel, milde ausgedrückt, völlig verfehlt und erschreckend uninformiert. (...) Sie beeinträchtigen die längerfristigen Wachstumsaussichten der USA und der gesamten Weltwirtschaft. Für uns liegt auf der Hand, dass die Aushöhlung der auf Regeln basierenden Weltordnung zur Förderung des globalen Handels und die Unterminierung internationaler Angebotsketten allen Beteiligten schaden werden, einschließlich der Schwellenländer. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass dadurch schon bald eine globale Rezession ausgelöst wird."
Dies deutet auf ein zweites Problem hin. Es ist durchaus möglich, dass Portfolios unter einem Handelskrieg Federn lassen, auch wenn keine Rezession ausgelöst wird. Mit dem BIP wird gemessen, wieviel in einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum, bespielweise in einem Jahr, produziert wurde. Das allein sagt noch wenig darüber aus, wie sich der Wohlstand ihrer Bürger entwickelt hat. Wie irreführend das BIP als Indikator sein kann, lässt sich beim Thema Handel besonders anschaulich darstellen.
Um die Grundprinzipien des Handels zu verstehen, ist die Analogie unseres CIO Specials vom Mai zu diesem Thema hilfreich: Man stelle sich eine geheime Technologie vor, "mit deren Hilfe die USA aus Weizen, Bauholz und Sojabohnen hochwertige Konsumgüter wie Spielsachen oder Waschmaschinen herstellen können." Wie bei jedem neuen Herstellungsprozess werden einzelne Arbeiter und Branchen unausweichlich zu den Verlierern gehören, andere zu den Gewinnern. Unsere imaginäre geheime Technologie verschafft "US-Landwirten und ihren Beschäftigten einen höheren Lebensstandard. Gleichzeitig geht es den jetzt nicht mehr wettbewerbsfähigen Spielwaren- und Waschmaschinenherstellern und ihren Arbeitskräften schlechter. Für die USA insgesamt ist der Handel jedoch eine gute Sache – ebenso und aus denselben Gründen wie neue Technologien. Letzten Endes profitiert der Verbraucher."
Dem bleibt nur hinzuzufügen, dass Einfuhrzölle auf Vorleistungsgüter und -dienstleistungen in der Regel den Wohlstand des zollerhebenden Landes stärker beeinträchtigen. Durch die Einbeziehung von Vor- und Zwischengütern wie Autoersatzteilen aus Stahl und Aluminium dürften sogar einige der Industriezweige betroffen sein, die mit Hilfe anderer Maßnahmen geschützt werden sollen. Waschmaschinen und Automobilhersteller sind gute Beispiele.
Soweit, so schlecht. Aber jetzt stellen wir uns einmal vor, dass diese geheime Technologie nur in einer einzigen Fabrik verwendet wird. Stellen wir uns weiter vor, dass die Fabrik von einem Hurrikan verwüstet wird. Wie schlimm wären die Auswirkungen? Wenn sich der Schaden schnell beheben lässt, nicht sehr schlimm. So ungefähr sehen die Finanzmärkte derzeit den schwelenden Handelskonflikt – als zeitweilige Störung des laufenden Betriebs. Die Fabrikbesitzer erleiden zwar gewisse Verluste, die sich aber schnell wieder ausgleichen lassen, während der Großteil der restlichen Wirtschaft weitgehend ungestört bleibt. Nach der Verwüstung durch den Hurrikan könnte sich das BIP-Wachstum sogar beschleunigen – schließlich muss die Fabrik neu aufgebaut werden. Zölle lösen, wie wir gesehen haben, ähnliche Anpassungskosten und Effizienzverluste aus. Sie können aber auch für zusätzliche Beschäftigung sorgen – denken Sie nur an die bürokratischen Hürden, die Firmen und Beamte bei Anträgen zu Zollbefreiungen zu überwinden haben.
Ein längerer Handelskrieg, bei dem protektionistische Maßnahmen auf Dauer bestehen bleiben, ist etwas völlig anderes. Er käme einer von Menschen verursachten Katastrophe gleich, bei der nicht nur das Fabrikgebäude völlig zerstört wird, sondern auch die geheime Technologie für immer verloren geht. Das wären eindeutig schlechte Nachrichten für die Fabrikbesitzer, aber auch für alle anderen, die eine Anlageentscheidung im Vertrauen darauf, dass sie an die Fabrik verkaufen können, getroffen haben – die Landwirte, die sich, in unserem Beispiel, auf Weizen, Sojabohnen und Holz spezialisiert haben. Der Nachteil für Verbraucher, die mehr für ihre Spielsachen oder Waschmaschinen bezahlen müssen, wäre ebenfalls von Dauer. Nur ein geringer Teil dieser Wohlstandsvernichtung wäre kurzfristig am geringeren BIP-Wachstum ablesbar.
Ein drittes Problem bei der Verwendung des BIP als Messgröße des entstandenen Schadens besteht darin, dass Investoren sich zu Recht wegen der nächsten Rezession Sorgen machen; was ihnen aber wirklich am Herzen liegt, sind die langfristigen Aussichten. Internationaler Wettbewerb beflügelt Innovationen – Länder können sich auf die Glieder der globalen Wertschöpfungskette spezialisieren, in denen sie am besten sind.
Wenn also weder BIP noch unsere Prognose für die nächsten zwölf Monate herauszufinden helfen, wie sich der internationale Handel auf die Finanzmärkte auswirkt, was dann? Wir erarbeiten gerade zwei weitere Indikatoren, die hier helfen könnten. Unser dritter Indikator zur Ermittlung des bislang angerichteten Schadens könnte als marktorientierter Nervositäts-Index bezeichnet werden. Er berücksichtigt stark auf den internationalen Handel reagierende Aktien- und Rohstoffmarktindikatoren, die Hinweise auf die Dauer des Konflikts und die Schadenshöhe liefern könnten. Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass die Märkte richtig liegen. Unser vierter Indikator versucht, die weitere Entwicklung mit Hilfe der Spieltheorie vorherzusagen. Hier geht es letzten Endes um die Frage, ob Donald Trump die globalen Wertschöpfungsketten wirklich zerstören will – oder nur blufft, um seine Verhandlungsposition zu verbessern. Sollte ersteres der Fall sein, könnten die Ergebnisse katastrophal sein, auch wenn einzelne Länder versuchen, das auf Regeln aufbauende Welthandelssystem zu erhalten. [7]
Politische Entwicklungen sind immer schwer vorherzusagen. Es ist überraschend, dass die Handelsspannungen bereits so stark eskaliert sind. Schon jetzt wird zunehmend deutlich, dass die Regierung Trump auch im eigenen Land starken Gegenwind spürt. US-Wirtschaft und US-Finanzmärkte scheinen wesentlich sensibler zu sein, als BIP-Prognosen vermuten lassen. Die Berechnungen variieren zwar im Ausmaß, aber die globalen Lieferketten könnten ernsthaft gestört werden. Schließlich scheint ein Großteil des US-Handels in Gütern und Dienstleistungen eher Smartphones (entwickelt von US-Unternehmen, auch wenn die Endmontage in China erfolgt) als Stahl zu gleichen. Die Wertschöpfung importierter und anderswo gefertigter Endprodukte erfolgt zu einem großen Teil in den USA. US-Hersteller erhalten wiederum einen großen Teil ihrer Vorgüter aus dem Ausland.
Letzte Woche lieferte die US-Automobilindustrie ein interessantes Beispiel, wie kompliziert protektionistische Maßnahmen in einer Zeit grenzüberschreitender Lieferketten sind. Bei der öffentlichen Anhörung zu den geplanten Zöllen auf Autos und Autorsatzteile flehten nicht nur die Europäer um Gnade. Sondern auch die Vertreter der US-Automobilhersteller. Sie wiesen darauf hin, dass ein Zoll von 25 Prozent auf importierte Autos und Autoersatzteile die Kosten eines typischen Importautos um 6.000 Dollar verteuern würde – gleichzeitig würden sich aber auch die Kosten eines in den USA gefertigten Autos um 2.000 Dollar erhöhen.[8] Kurz darauf korrigierte der größte US-Automobilhersteller seine Gewinnaussichten nach unten – und nannte als Grund die neuen Zölle.[9]
Dieser Druck könnte vielleicht zu dem Ergebnis führen, das viele Marktbeobachter bereits vor Monaten erwarteten. Im Mai schrieben wir: "Die US-Regierung dürfte zur Freude ihrer Wählerschaft "Konzessionen" zugunsten politisch gut vernetzter Branchen erringen, hauptsächlich aber zu Lasten der US-Verbraucher. (...) Der Weg zu "Kompromissen" dürfte relativ einfach sein. Die sachkundigen chinesischen, europäischen, mexikanischen und kanadischen Verhandlungspartner müssten lediglich der koreanischen Strategie folgen – und den USA, meist auf Kosten der US-Importeure und letzten Endes der US-Verbraucher, das eine oder andere "Zugeständnis" machen.“
Der Besuch von Jean-Claude Juncker mag hier als weiteres Paradebeispiel dienen. Vorerst reichte offensichtlich die bloße Bereitschaft der EU zur Fortsetzung von Gesprächen über Flüssigerdgas und Sojabohnen zur Vermeidung einer weiteren Eskalation aus.
Bei der Vorstellung unserer beiden letzten Indikatoren werden wir darauf hinweisen, dass Anleger die Auswirkungen einer weiteren Eskalation ebenso wenig überschätzen sollten wie die Auswirkungen von Rückziehern der einen oder anderen Partei. Im Grunde genommen bleibt die Frage, wie sich das regelbasierte multilaterale Handelsrahmenwerk unter dem Schirm der WTO anpassen und überleben kann. Jede neue protektionistische Maßnahme rückt dies in immer weitere Ferne. Und jede protektionistische Maßnahme erhöht den Druck, noch stärker in die Abläufe freier Märkte einzugreifen – wie das jüngste Hilfspaket der US-Regierung für Landwirte beweist.
Aus Sicht der Märkte wäre eine weitere Unterminierung der WTO und der Unterstützung für freien Handel und freie Märkte allgemein sehr zu bedauern. Aus ähnlichen Gründen scheinen die meisten US-Unternehmen und ihre Vertreter nicht allzu erpicht auf protektionistische Maßnahmen zu sein, auch wenn sie noch so gut gemeint sein mögen. Wichtige Unternehmensverbände wie die US-Handelskammer (U.S. Chamber of Commerce) kämpfen öffentlich erbittert gegen die geplanten Zölle der US-Regierung.[10] Etwas gedämpfter tun dies auch ihre politischen Verbündeten in den Reihen der Republikaner im Kongress, besonders im Senat.[11] Traditionelle Verfechter des Freihandels, darunter auch viele Republikaner, sind verständlicherweise beunruhigt. Ebenso Unternehmensvertreter, deren Interessen Donald Trump zu schützen behauptet. Hier drängt sich der alte Ausspruch von Ronald Reagan auf: "Die schlimmsten neun Wörter der englischen Sprache sind: I'm from the government and I'm here to help – Ich bin von der Regierung und hier zu helfen."
1 . Der Economist (2018a) veröffentlichte kürzlich eine sehr übersichtliche Aufschlüsselung der einzelnen Maßnahmen (d.h. wie viele Milliarden pro Branche) der einzelnen Länder: https://www.economist.com/graphic-detail/2018/07/20/donald-trump-is-fighting-trade-wars-on-severalfronts
2 . Ein interessantes Fazit zu den bisherigen Auswirkungen ziehen Crooks, E. und Fei, F. (2018) in "Trade war winners and losers grapple with Trump tariff chaos: Companies bewildered by judgments on exemptions as backlog of decisions rises" (Gewinner und Verlierer des Handelskriegs kämpfen gegen Trumps Zoll-Dschungel: Ausnahmeentscheidungen verwirren Unternehmen, während der Entscheidungsstau immer länger wird), Financial Times, 24. Juli 2018, https://www.ft.com/content/675e439c-8c25-11e8-bf9e-8771d5404543
3 . Davies (2018) gibt eine exzellente Einführung in dieses Problem. Nähere Einzelheiten zu den von Davies (2018) angeführten Berechnungen in Obstfeld (2018). "Tariffs Do More Harm Than Good at Home“ (Zölle richten im eigenen Land mehr Schaden als Gutes an), Internationaler Währungsfonds, https://blogs.imf.org/2016/09/08/tariffs-do-more-harm-than-good-at-home/
4 . "How tight is the U.S. labor market" , Feinman, J. (2018). https://dws.com/insights/cio-view/emea-en/how-tight-is-the-US-labor-market/
5 . Diese Zahlen gründen sich auf „die Erhöhung von US-Zöllen auf importierte Sonnenkollektoren, Waschmaschinen, Stahl, Aluminium sowie weitere chinesische Produkte und die von Handelspartnern angekündigten Vergeltungsmaßnahmen mit Stand 6. Juli 2018“, das heißt, dass die angedrohten Zölle auf weitere chinesische Importe im Wert von zusätzlich 200 Milliarden Dollar noch nicht berücksichtigt sind. Nähere Einzelheiten unter https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2018/07/02/world-economic-outlook-update-july-2018#_ftn1
6 . Irwin, N. (2018) erstellt eine recht nützliche Aufzählung von Indikatoren für Anleger zur Beurteilung der Auswirkungen des Handels auf die US-Wirtschaft.
7 . Einen Hinweis und einige Berechnungen zu Negativszenarien sind zu finden bei Krugman, P. (2018).
8 . https://www.ft.com/content/0c7e05c8-8b96-11e8-bf9e-8771d5404543
9 . https://www.ft.com/content/43e889aa-8ffd-11e8-b639-7680cedcc421
10 . https://www.reuters.com/article/us-usa-trade-chamber-exclusive/top-u-s-business-group-assails-trumps-handling-of-trade-dispute-idUSKBN1JS0VL
11 . https://www.politico.com/story/2018/07/03/trump-tariffs-republicans-congress-hatch-687911