Eine der verborgenen Stärken Europas ist seine Vielfalt. Wie die alten Hasen in Brüssel zu sagen pflegen, liegen die Europäer selten alle zur gleichen Zeit auf genau dieselbe Weise falsch. Bei all dem Gerede über die "Zeitenwende[1]„ von Bundeskanzler Olaf Scholz wird leicht übersehen, wie die Europäer, ob jung oder alt, voneinander lernen. Europäische Unternehmen, ob groß oder klein, konnten die durch Putins Krieg verursachte Energiekrise viel besser bewältigen, als es die ersten offiziellen Schätzungen vermuten ließen. Unterdessen scheint die Integration erwachsener Ukrainer (meist Frauen) in die lokalen Arbeitsmärkte ungewöhnlich reibungslos verlaufen zu sein[2].
In Deutschlands konsens-orientierter Demokratie vollzieht sich der Wandel in normalen Zeiten in der Regel langsam, um sich dann in Krisenzeiten plötzlich zu beschleunigen. Eine ähnliche Logik gilt für die europäische Ebene. "Ich habe immer geglaubt, dass Europa durch Krisen entstehen wird und dass es die Summe ihrer Lösungen ist", schreibt Jean Monnet, einer der Gründerväter der heutigen Europäischen Union, in seinen Memoiren[3], bevor er hinzufügt: "Aber die Lösungen mussten vorgeschlagen und umgesetzt werden." Glücklicherweise gibt es in Europa zahlreiche Beispiele dafür, wie sich die Energiewende und die digitale Transformation gegenseitig verstärken. In den letzten Jahrzehnten haben sich Norwegen, Finnland und Schweden zu Softwarehochburgen entwickelt. Estland steht regelmäßig an der Spitze der weltweiten Rangliste der wertvollsten Technologie-Start-ups pro Kopf, sogar noch vor Israel.11 Dänemark ist ein führender Akteur in der Biotechnologie.
Aktienmarkt Europa vs. Nordische Länder
Indexiert: 31.01.2013 = 100
Quelle: Bloomberg Finance L.P., DWS Investment GmbH; Stand: 31.03.2023
Die Tatsache, dass die nordischen Länder auch bei der Energiewende in Europa führend sind, ist kein Zufall. Um das Potenzial der intermittierenden erneuerbaren Energiequellen auszuschöpfen, sind Echtzeitdaten an verschiedenen Stellen des Stromnetzes erforderlich. Erst wenn die technische, rechtliche und kommerzielle "Infrastruktur" vorhanden ist, können digitale Managementsysteme die Erzeugung und den Verbrauch effizient aufeinander abstimmen. Darüber hinaus sind Datenspeicherung, -verarbeitung und -abruf extrem energieintensiv. Diese wiederum bilden die Grundlage für die künstliche Intelligenz, das Cloud Computing und die damit verbundenen digitalen Dienste[4]. Die nordischen Länder haben den doppelten Vorteil, dass sie genügend billige erneuerbare Energie und ein kaltes Klima verfügen. Letzteres reduziert den Bedarf an kostspieliger und energieintensiver Kühlung von Rechenzentren. Mit dem Ausbau der Offshore-Windenergie sollten diese Vorteile noch weiter zunehmen und die Wirtschaftsgeografie Europas möglicherweise neu gestalten.
Weitgehend unbemerkt von vielen Investoren entstehen bereits innovative Cluster jenseits der alten Industriegebiete Europas. Und wenn Agglomeration und Innovation an einem bestimmten Ort - aus welchen Gründen auch immer - beginnen, entstehen in der Regel positive Rückkopplungsschleifen. Putins Krieg hat den Europäern viele bittere Lektionen erteilt. Aber die vielleicht wichtigste, die wir im Auge behalten sollten, ist, wie viel wir voneinander und von innovativen Erfolgsgeschichten im Norden und Osten des Kontinents lernen können.
