29. Nov 2021 Global

2022 – stark genug für den Entzug?

Die Wirtschaft sollte 2022 über Potenzial wachsen, die Inflationssorgen größer sein als die Inflation. Die monetäre Unterstützung geht zurück, die Märkte sollten es verkraften.

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Aktionäre blicken auf ein Jahr zurück, in dem sie bisher über 20 Prozent gewonnen haben, ...

Sind die derzeitigen Inflationsraten temporär oder länger anhaltend? Das ist die dominierende Frage an den Kapitalmärkten. Man könnte mit Blick auf das Anlagejahr 2022 aber auch fragen: Ist die Blase an den Kapitalmärkten temporär oder wird sie länger anhalten? Diese Frage ist weit weniger zynisch, als es zunächst scheint. Denn im aktuellen Marktumfeld weit überdurchschnittlicher Bewertungen müssen sich die Anleger nicht nur beim Thema Inflation fragen, was vorübergehender und was nachhaltiger Natur ist. Aktionäre blicken auf ein Jahr zurück, in dem sie bisher über 20 Prozent[1]‌ gewonnen haben, dank Firmen, die ihre Gewinne in den ersten neun Monaten um fast 50 Prozent gegenüber Vorjahr steigern konnten. Dies unter anderem auch, da sie die Kostensteigerungen vor allem beim Material noch gut an die Konsumenten weitergeben konnten, während die Löhne noch nicht in der Breite angestiegen sind. Das resultiert in einer historisch hohen Nettogewinnmarge, im S&P 500 etwa in Höhe von fast 13 Prozent. Im zyklischen Hoch 2007 waren es noch weniger als 10 Prozent.[2]

All diese Themen bleiben auch 2022 relevant, wir denken jedoch überwiegend im ersten Halbjahr. Wir rechnen daher mit einem weiteren Jahr mit Wachstumsraten oberhalb des Potenzialwachstums für die meisten Länder. Im Einzelnen rechnen wir für die Eurozone mit einem Wachstum von 4,6 Prozent, womit sie erstmals seit 2017 wieder schneller als die USA (4,0 Prozent) wächst. China trauen wir „nur“ noch 5,3 und Indien 7,5 Prozent zu

Dieses positive Bild wird abgerundet von unseren Inflationserwartungen, die für die USA und die Eurozone unterhalb von drei Prozent liegen.[3]‌ Neben Basiseffekten etwa beim Ölpreis oder Steuern (in Deutschland) trägt auch die zunehmende Anpassung zwischen Angebot und Nachfrage zu fallenden Inflationsraten in der zweiten Jahreshälfte bei. Den Zentralbanken wird so etwas Handlungsdruck genommen. Die US Federal Reserve (Fed) wird unseres Erachtens bis Mitte 2022 die Netto-Anleihekäufe einstellen und anschließend bis Ende 2022 noch einen Zinsschritt tätigen. Die EZB dürfte 2022 die Anleihekäufe reduzieren, aber die Zinsen auf derzeitigem Niveau halten, wahrscheinlich auch 2023 noch. Dabei könnte ihr helfen, dass die Wachstumsraten dann ohnehin zurückgehen werden, da die Sonderaufschwungsphase beendet sein dürfte. Wir rechnen 2023 für die Eurozone nur noch mit einem Wachstum in Höhe von 1,6 Prozent, für die USA erwarten wir 2,8 Prozent. Damit biegt die Wirtschaft wieder auf den Pfad moderaten Wachstums ein, den wir 2014 mal „Schildkrötenzyklus“ genannt hatten. Allerdings dürfte er diesmal mit leicht höheren Inflationszahlen einhergehen. 

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Das wichtigste Resultat für die Anlageklassen aus diesem Szenario ist, dass wir keine starken Zinsschübe erwarten. Die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen, das Maß aller Dinge auf den Finanzmärkten, sehen wir bis Ende 2022 nur auf 2 Prozent steigen. Realzinsen dürften weiter deutlich negativ bleiben. Und das bedeutet ein anhaltend gutes Umfeld für Risikoanlagen, insbesondere für Aktien, die zudem noch einen guten Schutz gegen moderate Inflationsraten bieten können. Besonders gut gelingt dies Unternehmen mit hoher Preissetzungsmacht, welche wir im Fokus haben. Wir rechnen im Schnitt mit einem Kurspotenzial im mittleren einstelligen Prozentbereich. Es wäre, das muss man sich im Rahmen der Jahrhundertpandemie noch mal vor Augen führen, das vierte Jahr in Folge, in dem Aktien positiv abschneiden.

Wir setzen angesichts des starken, zeitlich aber begrenzten Aufschwungs weiter auf eine Kombination aus Wachstumswerten und zyklischen Substanzwerten. Das beinhaltet auch eine ausgewogene regionale Verteilung. Nach einem relativ schwachen Jahr könnten Asiens Aktienmärkte 2022 zwar die Lücke zum Gesamtmarkt wieder schließen, doch denken wir, dass insbesondere aus China im ersten Halbjahr noch weitere marktbelastende Nachrichten kommen könnten.

Mit den USA decken wir vor allem das Wachstumssegment ab; mit Europa, Japan und Asien die zyklische Komponente. In die zyklische Komponente fallen auch die Industriewerte, von denen wir einige als große Gewinner der Dekarbonisierungspolitik sehen, Stichwort Clean Technology. Nachhaltigkeit, wie auch das breite Interesse an der Klimakonferenz in Glasgow gezeigt hat, dürfte auf der Agenda noch weiter nach oben rücken. Unser Fazit des Gipfels: Es wurde mehr erreicht als gedacht, aber weniger als nötig. 
Das beschriebene wirtschaftliche Umfeld spricht auch weiter für einige Segmente der alternativen Anlagen. Der Infrastrukturbereich lockt mit seiner guten Anpassungsfähigkeit an steigende Preise. Und auch im Immobiliensegment sehen wir weiter viele interessante Nischen, neben Logistikflächen insbesondere günstigen, nachhaltigen Wohnraum in Großstadtnähe.

Mit den USA decken wir vor allem das Wachstumssegment ab; mit Europa, Japan und Asien die zyklische Komponente.

Bei Anleihen wird man 2022 selektiv vorgehen müssen. Staatsanleihen werden es aus unserer Sicht weiter schwer haben in einem Umfeld steigender Zinsen, insbesondere längere Laufzeiten. Zudem dürfte die Volatilität auch für kürzere Laufzeiten vor allem in der ersten Jahreshälfte ähnlich hoch bleiben wie im zweiten Halbjahr dieses Jahres, da die Märkte die von den Zentralbanken kommunizierten Zinsanhebungspfade testen werden. Nach einem schwächeren Jahr für Unternehmensanleihen – nur US-Hochzinsanleihen weisen bisher eine positive Rendite auf – erwarten wir für 2022 wieder bessere Zahlen. Dazu sollte das wirtschaftliche Umfeld, die unglaublich niedrigen Ausfallraten und ein besseres Angebots-Nachfrageverhältnis beitragen. Auch für Schwellenländeranleihen erwarten wir wieder ein besseres Jahr, auch wenn weitere Unklarheit in China oder ein zeitweise erstarkender Dollar die Vorteile steigender Rohstoffpreise teils überschatten könnten.

Allerdings könnte unserer Meinung nach der Dollar seinen Aufwertungsschwung im Laufe des ersten Halbjahres verlieren. Nicht zuletzt, da der Markt derzeit beim Zinsdifferential sehr Dollar-freundlich positioniert ist: in der Eurozone folgt er weitgehend dem „Tauben-“Narrativ der EZB, während er in den USA fast drei volle Zinsschritte bis Ende 2022 einpreist. Wir sind da vorsichtiger und erwarten auf 12-Monatssicht einen Kurs von 1,20 Dollar je Euro.

Zusammenfassend rechnen wir also 2022 mit einem guten Anlagejahr insbesondere für Risikoanlagen. Risiken dürften weniger von Politik oder Wirtschaft ausgehen als von den Märkten selbst. Insbesondere die Reaktion der Aktienmärkte auf den graduellen Liquiditätsentzug der Zentralbanken und auf eine Wachstumsverlangsamung könnte volatil ausfallen. Unserer Ansicht nach wird Inflation mindestens im ersten Halbjahr noch eine große Rolle spielen.

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1. Wertentwicklung des MSCI World Index bis 23.11.2021, Quelle: Bloomberg Finance L.P.

2. Bloomberg Finance L.P., Stand 23.11.2021; die unterschiedliche Indexzusammenstellung hat zusätzlich zu dieser Entwicklung beigetragen.

3. USA: Kernrate des Konsumausgaben-Deflators, Eurozone: Inflation des Konsumentenpreisindex

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