Zehn Jahre liegt der Höhepunkt der Finanzkrise nun zurück. Zehn Jahre hatte die Weltwirtschaft Zeit, sich wieder "einzupendeln". Ist es damit nicht nun endlich mal an der Zeit, die Finanzkrise abzuhaken und sich wieder der normalen Konjunkturbeobachtung zuzuwenden? Ich denke nein. Und im Gegenteil: Ich glaube vielmehr, dass wir die langfristigen Folgen der Finanzkrise noch gar nicht richtig einschätzen können. Daher möchte ich in diesem Papier analysieren, in welchen Bereichen die Finanzkrise bis heute nachwirkt – und dies meiner Meinung nach auch noch sehr lange tun wird:
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Zum ersten geht es um Auswirkungen der Finanzkrise auf Konjunktur und Wachstum;
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zum zweiten um die Fragestellung, wie die eingeleitete Rettungspolitik der Zentralbanken auf die gesamtwirtschaftliche Verschuldungssituation gewirkt hat – den zentralen Auslöser der Finanzkrise;
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und schließlich um die langfristigen wirtschaftspolitischen und geopolitischen Folgen der Finanzkrise.
Ich glaube zwar, dass die (langfristigen) Folgen der Finanzkrise weithin eher unter- als überschätzt werden; gleichwohl sollte man sich aber davor hüten, alle aktuellen Phänomene ausschließlich durch die Finanzkrise erklären zu wollen. Die Welt ist selten monokausal und auch die Finanzkrise ist kein singuläres Ereignis, das losgelöst von der übrigen Entwicklung zu betrachten ist: Schließlich ist die Finanzkrise ihrerseits Teil einer größeren Geschichte.
Was folgt daraus? Was sind die Auswirkungen für die Kapitalmärkte? Worauf müssen sich Anleger einstellen? Bei der Analyse zeigt sich, dass für die Einschätzung der aktuellen Lage die Auswirkungen keineswegs nur negativ sind. So kann sich beispielsweise die derzeitige positive konjunkturelle Entwicklung gerade wegen der Finanzkrise so lange halten.
Konjunktur und Wachstum: Läuft – aber nachhaltig geschwächt
Ökonomen unterscheiden zwischen Konjunktur und Wachstum. Unter (echtem) Wachstum verstehen sie die langfristige Entwicklung des Produktionspotentials. Als Konjunktur bezeichnet man die kurzfristigen Schwankungen der tatsächlichen Produktion um den langfristigen Potentialpfad herum.
Realwachstum und Vorkrisentrend: USA, Deutschland und Italien

Quellen: Internationaler Währungsfond, Haver Analytics Inc., Deutsche Asset Management Investment GmbH; Stand: 06/2018
* In konstanten Preisen
** Trendwachstum auf Basis der Jahre von 1980 bis 2007
In der Finanzkrise fiel der konjunkturelle Einbruch wesentlich tiefer aus als zunächst gedacht und hinterließ zudem tiefe strukturelle Schleifspuren. Konjunkturell betrachtet haben inzwischen fast alle Industrieländer wieder einigermaßen festen Boden unter den Füßen: Die riesigen Output-Lücken[1], die sich im Zuge der Finanzkrise aufgetan hatten, haben sich mehr oder minder wieder geschlossen; die Arbeitslosenquoten normalisieren sich, in einigen Regionen wird inzwischen die Vollbeschäftigung wieder erreicht; Deflationssorgen gehören weitgehend der Vergangenheit an. In den USA geht der Aufschwung ins zehnte Jahr – damit währt er doppelt so lang wie durchschnittliche Boom-Phasen seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Nur, dass dieser Aufschwung so lange anhalten kann, ist eben auch der Tiefe des Einbruchs und der Schwäche der Erholung geschuldet.[2] Betrug das durchschnittliche jährliche BIP-Wachstum einer normalen Erholungsphase gut vier Prozent, so fällt es im aktuellen Aufschwung mit rund zwei Prozent fast um die Hälfte niedriger aus. So besehen ist es eben kein Wunder, dass dieser Aufschwung so lange anhält. Daher gehen wir auch davon aus, dass diese Erholungsphase noch weiter fortdauern kann: Auch wenn sich die Output-Lücken mancherorts bereits geschlossen haben, von echten Überhitzungserscheinungen sind wir in den meisten Industrieländern immer noch weit entfernt. Für diese These spricht beispielsweise, dass in den USA noch immer Beschäftigung aufgebaut wird, obwohl die Arbeitslosenquote schon seit Längerem Vollbeschäftigung anzeigt. Dies könnte darauf hindeuten, dass das Potenzial noch gar nicht vollends ausgeschöpft ist.
Das Wachstumspotenzial, also die langfristige Wachstumsrate einer Volkswirtschaft bei normaler Auslastung der Produktionskapazitäten, liegt heute in den Industrieländern unter jenem vor der Finanzkrise. Der langfristige Wachstumspfad wurde durch die Finanzkrise in Mitleidenschaft gezogen. Das Produktionspotential wird vor allem durch drei Faktoren determiniert: Demographie, Erwerbsbeteiligung und insbesondere Produktivitätswachstum. Während die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Demographie eher gering ausfallen und sich auch erst in vielen Jahren wirtschaftlich manifestieren dürften, so sind bei den beiden letztgenannten Komponenten die Folgen deutlich und unmittelbar zu spüren.
Viele Arbeitnehmer haben durch die lange Arbeitslosigkeit einen Teil ihrer Qualifikation verloren beziehungsweise Fertigkeiten gar nicht erst erworben ("loss of skills"). Unterstellt man, dass ein durchschnittliches Arbeitsleben keine vierzig Jahre umfasst, dann haben viele Arbeitnehmer mehr als ein Viertel ihres Arbeitslebens in einer Rezession "vergeudet". Dies ist besonders bitter für die jungen Menschen, die ihr Potential in jungen Jahren nicht ausleben oder gar nicht erst voll entwickeln konnten. Wissenschaftliche Studien legen nahe, dass Arbeitnehmer, die in Rezessionszeiten ihren ersten Job antreten, ihr (Berufs-)Leben lang weniger verdienen als solche, deren Start in die Arbeitswelt mit einem Boom zusammenfiel. Daher überrascht es auch nicht, dass sich viele Arbeitnehmer in die sogenannte Stille Reserve[3] verabschiedet haben.
Der "loss of skills" aufgrund langer Arbeitslosigkeit schlägt sich aber nicht nur in einer niedrigeren Erwerbsquote, die sich in den USA wegen der demographischen Entwicklung ohnehin schon in einem langfristigen Sinkflug befindet, nieder, sondern eben auch in einem geringen Wachstum der Produktivität, also dem Output pro Stunde je Arbeitnehmer. Die Produktivitätsentwicklung ist allen Unkenrufen der Digitalisierungsapologeten zum Trotz in den meisten Industrieländern seit Jahren äußerst schwach und während der Finanzkrise noch einmal schwächer ausgefallen. In Teilen handelt es sich dabei zwar um ein statistisches Artefakt: Wenn in der Krise die Produktion schneller sinkt, als die Unternehmen Personal abbauen, dann liegt es in der Natur der Sache, dass während der Krise die gemessene Produktivität sinkt. Daher kann man davon ausgehen, dass die Produktivität jetzt wieder ansteigen wird, weil aufgrund der guten Nachfragesituation die Produktion wieder hochgefahren werden kann, ohne im gleichen Umfang neues Personal (wieder) einstellen zu müssen. Dies gilt insbesondere, weil die meisten Unternehmen während der Krise versuchen, zunächst ihre weniger produktiven Mitarbeiter zu entlassen.
Aber über diesen Basiseffekt hinaus hat die Produktivität im Zuge des langjährigen Konjunkturtiefs gelitten, weil während der Finanzkrise aufgrund der unterausgelasteten Kapazitäten zahlreiche Investitionen in den Industrieländern unterblieben. Da Finanzrezessionen, also solche die durch Finanzkrisen ausgelöst werden, typischerweise besonders lange anhalten, ist auch der "Investitionsrückstand" in diesem Fall besonders groß und der veraltete Kapitalstock belastet die Produktivität zusätzlich.
USA: Produktivität und Reallöhne

Quellen: Haver Analytics Inc., Bureau of Labor Statistics, Deutsche Asset Management Investment GmbH; Stand: 06/2018
Finanzzyklus: Die Schulden wandern, gehen aber nicht weg…
Erholungen nach Finanzkrisen sind auch deswegen besonders langwierig, weil die Banken, Unternehmen und privaten Haushalte ihre Bilanzen wieder in Ordnung bringen müssen (Stichwort: "Deleveraging"). Mittlerweile haben die Banken in den Industrieländern ihre Risiken deutlich abgebaut, das Eigenkapital wurde gestärkt, die Aufsicht verschärft, die Bankenunion in derEurozone ist weit vorangeschritten. So weit, so gut. Legt man aber die Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zugrunde, so lässt sich erkennen, dass bei weitem noch nicht alles erreicht ist. Sowohl in den Industrieländern wie auch in den Schwellenländern haben die gesamtwirtschaftlichen Schulden (Staat, Unternehmen und private Haushalte) nicht abgenommen. Im Gegenteil: Die Schulden, gemessen am BIP, haben sogar zugenommen. Dies gilt insbesondere für die Verschuldung des Staates, der sozusagen einsprang, um die ausgefallene Nachfrage aus dem privaten Sektor zu kompensieren. Dies hat insbesondere in den USA relativ gut funktioniert, wo eine expansive Fiskalpolitik von einer akkommodierendenGeldpolitik unterstützt wurde.
Struktur der Verschuldung in den Vereinigten Staaten

Quellen: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Deutsche Asset Management Investment GmbH; Stand: 06/2018
In der Eurozone jedoch stieß eine solche Politik schnell an ihre institutionellen Grenzen. Hinzu kam, dass der Schock die Eurozone in einem gewissen Sinne besonders asymmetrisch traf: Für zahlreiche Länder, wie Spanien, Portugal oder auch Irland, bedeutete die Einführung des Euro eine massive Senkung des Realzinses. Dies führte im Vorfeld der Finanzkrise zu einer Überhitzung der heimischen Wirtschaft – vor allem durch eine ausufernde Bautätigkeit. Dieser Realzinsschock fehlte in Ländern wie Frankreich oder Deutschland. Sie hatten daher, als die Finanzkrise ausbrach, keine so stark von der Bauwirtschaft ausgehende Kontraktion zu verarbeiten. Deutschland wiederum war wegen seiner ausgeprägten Exportorientierung dem Einbruch der Weltkonjunktur gegenüber stärker exponiert. Die automatischen Stabilisatoren, die in anderen Währungsräumen für einen Ausgleich zwischen den unterschiedlich betroffenen Regionen sorgen, fehlen in der Eurozone weitgehend. Dadurch waren einige Länder gezwungen, fiskalische Anpassungsmaßnahmen ("Austerität") zu ergreifen, die das Ausmaß der Krise zunächst noch einmal erhöhten und aus der Finanzkrise eine Euro- und Staatsschuldenkrise machten.
Die Zentralbanken versuchten, so gut es ging, die Maßnahmen der Staaten durch eine expansive Geldpolitik zu flankieren. Während dies in den USA und Großbritannien im Großen und Ganzen gut gelang, waren der EZB zunächst die Hände gebunden. Letztlich konnte aber auch in der Eurozone der Krise nur durch das beherzte Zupacken der EZB Einhalt geboten werden. Weltweit haben die Zentralbanken ihren geldpolitischen Instrumentenkasten ausgeweitet und diese neuen Instrumente auch weidlich genutzt: So haben die Zentralbanken nicht nur die Zinsen faktisch auf null (oder gar darunter) gesenkt und sie dort über extraordinär lange Zeiträume belassen, sondern auch die Langfristzinsen durch die so genannte Forward Guidance[4] und vor allem durch massive Staatsanleihekäufe drastisch gesenkt.
Durch die extrem niedrigen (Langfrist-)Zinsen wurden allerdings die Anreize gesenkt, weiter zu konsolidieren. Daher ist jetzt, wo dieses geldpolitische Experiment seinem Ende entgegen geht, der weltweite Schuldenberg – gemessen am BIP – nicht kleiner sondern größer geworden. Die Schulden sind nicht weniger geworden, nur die Gläubiger sind andere. Dabei lassen sich einige Trends ablesen. Die Privaten (Banken, Haushalte und Unternehmen) haben die Verschuldung überwiegend zurückgeführt. Dafür hat die Schuldenlast des Staates in den meisten Ländern teilweise dramatisch zugenommen. Und wegen der immer noch sehr niedrigen Zinsen gibt es keine Disziplinierung durch die Märkte, wie das Beispiel der USA zeigt. Seitdem die Banken ihre Bilanzen bereinigt und vor allem reduziert haben, sind die Unternehmen nunmehr über den Kapitalmarkt verstärkt bei privaten Haushalten verschuldet – entweder direkt oder indirekt über institutionelle Investoren, die als Kapitalsammelstellen (Versicherungen, Pensionsfonds etc.) das Geld wiederum für die privaten Haushalte anlegen.
Und eine weitere wichtige Verschiebung hat es gegeben: die Schulden wandern (zumindest relativ) von den Industrieländern zu den Schwellenländern, allen voran nach China. Um die Jahrtausendwende hatten die Schwellenländer noch einen Anteil von rund 11 Prozent an den globalen Schulden[5], so sind es inzwischen nach Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich rund 30 Prozent, davon beträgt der chinesische Anteil allein schon 18 Prozent. Auch wenn China nicht unmittelbar von der Finanzkrise betroffen war, so drohte diese doch über den Exportkanal auch die chinesische Wirtschaft zu erfassen. Daher hat die Regierung dort mit einer sehr expansiven Fiskalpolitik gegengesteuert. Dies ist zwar in weiten Teilen gut gegangen, aber eben sehr zu Lasten der Verschuldungssituation. In einem übertragenen Sinne hat der Westen dadurch einen Teil seiner Verschuldung in die Schwellenländer, namentlich China, "exportiert".
Anteil der Schwellenländer an der globalen Gesamtverschuldung

Quellen: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Deutsche Asset Management Investment GmbH; Stand: 06/2018
* Staat, private Haushalte und nichtfinanzielle Unternehmen
Geopolitische Nebenwirkungen: Noch lange nicht verarbeitet
Am schwersten zu greifen sind die nachgelagerten tektonischen Verschiebungen, die sich infolge der Finanzkrise zeigen: Der Frust über das "Versagen der Eliten" führt zu Reaktionen wie dem Brexit oder der Wahl von Donald Trump. Nicht nur Finanz-Experten wurden durch das Nicht-Vorhersehen der Krise desavouiert; das Expertentum als solches wurde quasi durch Kontamination diskreditiert, was in Teilen dazu beiträgt, dass viele generell nicht mehr auf Experten oder andere Eliten hören möchten, und "Fake News" und Verschwörungstheorien so viele Anhänger finden.
Der britische Historiker Niall Ferguson machte in einem hoch interessanten Vortrag auf der "Zeitgeist"-Konferenz 2016 die seiner Ansicht nach vier essenziellen Zutaten für Populismus aus:[6]
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Erstens eine Wirtschafts- oder Finanzkrise, die zu erheblichen Verwerfungen innerhalb der Gesellschaft führt
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Zweitens die – oft damit einhergehende – Zunahme der Ungleichheit, die das Gefühl befördert, zu den Verlierern zu gehören
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Drittens eine starke Zunahme der Migration
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Viertens ein großes Misstrauen gegenüber den Eliten
Bei den angeprangerten Missständen muss es sich nicht einmal um tatsächliche Entwicklungen handeln: Ob die Korruption im Land tatsächlich zu- oder abnimmt, spielt keine Rolle; es reicht, wenn viele glauben, es ginge in ihrem Land korrupt zu und die gewählten Volksvertreter verträten nicht mehr die Interessen des "wahren Volkes".
Die weltweite Finanzkrise war einer der entscheidenden Katalysatoren für die aktuellen politischen Entwicklungen. Die Schwere der Rezession, der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit, die große Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung, aber auch das bis heute anhaltende Unvermögen der Eliten, das Geschehen zu erklären: All dies hat den Parteien an den Rändern des politischen Spektrums Auftrieb gegeben. Hinzu kommt, dass die aktuelle Erholung und die sehr expansive Geldpolitik für kräftige Gewinne an den Kapitalmärkten sorgt, während das schwache Produktivitätswachstum, die vielerorts noch hohe Arbeitslosigkeit und die durch Krisenerfahrung geschwächte Verhandlungsposition der Arbeitnehmer zu einer sehr schwachen Lohnentwicklung beiträgt. Viele haben das Gefühl, dass die Früchte der Erholung wieder bei den Reichen landen. Und tatsächlich sind die Realeinkommen in den USA am oberen Rand der Einkommensverteilung seit der Finanzkrise kräftig gestiegen, während die Realeinkommen am unteren Rand, die überwiegend aus Lohneinkommen bestehen, im Schnitt sogar gesunken sind. Tatsächlich zeigt sich, dass es einen Zusammenhang zwischen den Wachstumsverlusten aus der Finanzkrise und dem Abschneiden populistischer Parteien gibt.
Wachstumsverluste und Populismus

Quellen: Bloomberg Finance LP, Deutsche Asset Management Investment GmbH, Timbro Institut Schweden; Stand: 06/2018
* Relativer Abstand des tatsächlichen BIP pro Kopf (2018) von dem, das sich bei Fortschreibung des Vorkrisentrends (1980-2007) ergäbe
Typischerweise fällt die Sternstunde der Demagogen nicht mit dem Höhepunkt der Krise zusammen, wenn die Verunsicherung der Menschen am größten ist, sondern sie bricht an, sobald es wieder etwas bergauf geht und viele dabei das Gefühl beschleicht, sie seien abgehängt worden, während die Eliten ihrer Einschätzung nach nicht gelitten und sich nicht auch nicht gekümmert haben. So feierten die – linken – Protestparteien in Griechenland und Spanien ihre größten Wahlerfolge als sich erste Wirkungen der Reformpolitik abzeichneten. Viele eher rechts gerichtete Populisten erfahren überwiegend in Ländern Zuspruch, die die Finanzkrise im Großen und Ganzen bereits gut verdaut haben, so in den USA oder Großbritannien.
Die Finanzkrise war eine Krise innerhalb des westlichen Kapitalismus. Viele versuchen dies in eine Krise des westlichen Kapitalismus selbst umzudeuten. Die Zweifel des Westens an seinem eigenen Betriebssystem lassen sich ohne die Finanzkrise nicht erklären und sie tragen maßgeblich zu dem Aufstieg der Populisten bei. Die Folgen sind weitreichend. Populisten sind überwiegend gegen Globalisierung eingestellt: also gegen Freihandel und gegen Migration. Die zahlreichen Handelsstreitigkeiten, Strafzölle und so weiter sind eben auch (wenngleich nicht nur) eine Folge der Finanzkrise: Das Wertesystem des Westens hat schweren Schaden genommen. Der US-amerikanische Präsident stellt das westliche Militärbündnis und die Regeln des Freihandels in Frage, die neue italienische Regierung die bestehenden EU-Verträge. Sich an die Vereinbarungen der Vergangenheit zu halten ist aber unabdingbar für das Funktionieren des westlichen Geschäftsmodells. Man sollte sich auch davor hüten, anzunehmen, dass der Spuk bald vorbei sei. Der Migrationsdruck wird über die Jahre sicherlich nicht abnehmen und die Megatrends Digitalisierung und Globalisierung sprechen dafür, dass die Ungleichheit in der Einkommensverteilung weiter zunehmen dürfte. Einmal verlorenes Vertrauen wieder herzustellen ist erfahrungsgemäß ein langdauernder Prozess. Damit entfalten mindestens drei der vier oben genannten Faktoren für Populismus auch auf Jahre hinaus ihre Wirkung.
Aber nicht nur im Westen gibt es Zweifel am bisherigen Modell; auch dass der chinesische Präsident Xi heutzutage offen von einer "chinesischen Alternative" spricht (und nicht mehr klammheimlich dem westlichen Ideal nacheifert), zeugt von dem erstarkenden Selbstbewusstsein Chinas, das durch die Finanzkrise, die dort als Delegitimierung des westlichen Geschäftsmodells und des Hegemonialanspruchs verstanden wird, befeuert wurde. Die Folgen reichen sicherlich weit über rein ökonomische Fragestellungen hinaus und werden uns noch sehr lange beschäftigen.
Was folgt aus alledem?
Wenn man die drei zentralen Punkte aufgreift, dann lassen sich die folgenden Schlüsse ziehen:
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Obwohl der Aufschwung bereits ins zehnte Jahr geht, kann die Konjunktur noch länger gut laufen, eben weil der Abschwung so tief und die nachfolgende Erholung so anämisch war. Derzeit befindet sich faktisch die gesamte Weltwirtschaft in einem Aufschwung; so besehen war die Finanzkrise ein großer "Konjunktursynchronisator". Damit droht allerdings auch die Gefahr, dass der nächste Abschwung ebenfalls besonders synchron (und damit schwer) ausfällt. Das Potentialwachstum in den westlichen Volkswirtschaften bleibt vermutlich auf Jahre hinter dem vergangener Jahrzehnte zurück – zumal der Boom das Wachstum im Vorfeld der Krise möglicherweise überzeichnet hat. Man wird sich wohl in den kommenden Jahren an ein schwächeres Wachstum gewöhnen müssen. Die hohen Wachstumsraten gehören der Vergangenheit an. Mit den schwächeren Wachstumsaussichten dürfte aber auch die erzielbare Realrendite in Zukunft schwächer ausfallen.
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Auch wenn der Bankensektor in den Industrieländern tatsächlich seine Risiken reduziert hat, so bleibt die Schuldenproblematik doch die vorrangige Sorge. Schließlich haben die globalen Schulden nicht ab- sondern zugenommen. Wenn der nächste Abschwung kommt – und irgendwann wird er kommen – dann trifft er auf einen Schuldenberg, der noch größer ist, als er es zu Beginn der Finanzkrise war. Hinzu kommt, dass die Zentralbanken ihr Pulver weitgehend verschossen haben und noch nicht wieder abwehrbereit sind. Während für die US Federal Reserve (Fed) die Chancen gut stehen, rechtzeitig vor der nächsten Rezession ihre Zinsen wieder auf ein auskömmliches Niveau gehievt und ihre Bilanz soweit normalisiert zu haben, dass sie angemessen auf einen Abschwung reagieren kann, sieht die Situation für die EZB deutlich anders aus. Sie vollzieht ungefähr mit einem zeitlichen Verzug von vier Jahren die Politik der Fed nach. Allerdings ist es alles andere als sicher, dass die nächste Rezession auch mit einer Verzögerung von vier Jahren auf Europa trifft.
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Wenngleich die politischen Auswirkungen der Finanzkrise am schwersten zu ermessen sind, sollte man sie nicht unterschätzen. Der Westen droht weiter an seiner Vormachtstellung zu verlieren, während die Schwellenländer, vor allem China, eher reüssieren dürften. Dies gilt umso mehr, als, wenn unsere Analyse richtig ist, die Welle des Populismus noch nicht ihren Zenit erreicht haben dürfte. Damit könnte die Antiglobalisierungsstimmung im Westen weiter zunehmen – und damit protektionistische Maßnahmen, wie die Einführung von Zöllen und die Beschränkung von Migration. Für die Eurozone kommt noch ein weiterer Umstand erschwerend hinzu: Die Finanzkrise hat einerseits die Schwächen der Eurozone schonungslos offen gelegt; andererseits aber zu einer Situation geführt, die die notwendige Weiterentwicklung der Eurozone, um diese Schwächen abzustellen, deutlich erschwert. Die aktuelle Entwicklung in Italien und die Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland zeigen dies überdeutlich.
Was heißt das für die Kapitalmärkte?
Die Erkenntnis, dass dieser Aufschwung länger anhalten kann als normale Aufschwünge sorgt auch dafür, dass die Expansion an den Kapitalmärkten außergewöhnlich lange anhält und voraussichtlich auch noch eine Weile anhalten wird.
Allerdings dürften einige der oben analysierten Auswirkungen der Finanzkrise die Kapitalmärkte auf Jahre schwächen. Damit ist nicht gemeint, dass die Kapitalmärkte sich absolut schwach oder gar negativ entwickeln, sondern lediglich, dass sie sich schwächer entwickeln als sie es ohne Finanzkrise getan hätten.
Zunächst einmal sorgen das getrübte Produktivitätswachstum und das damit perspektivisch schwächere BIP-Wachstum für etwas weniger optimistische Aussichten an den Aktienmärkten. Die langfristigen Wachstumserwartungen liegen unter den durchschnittlichen Entwicklungen aus der Vergangenheit. Auch die Antiglobalisierungsstimmung in den USA und in anderen Industrieländern ist nicht gerade hilfreich. Hinzu kommt, dass durch die expansive Geldpolitik und die damit einhergehenden niedrigen Zinsen auch die Bewertungen an den Aktienmärkten vergleichsweise hoch sind: Der starke Anstieg der globalen Aktienindizes lässt sich eben nicht ausschließlich auf die gestiegenen Gewinnerwartungen zurückführen, sondern in Teilen darauf, dass die zukünftigen Gewinne mit nunmehr niedrigeren Zinsen diskontiert werden.
Die über Jahre hinweg expansive Geldpolitik und das exzeptionell niedrige Nominalzinsniveau haben den natürlichen "Risikopuffer" in der Kapitalanlage ohnehin weitgehend aufgezehrt. Sorgten früher – in Zeiten hoher Nominalverzinsung – schon allein die Kupons von Bundesanleihen für eine auskömmliche Verzinsung, so ist dieser Puffer inzwischen dahingeschmolzen. Die durchschnittliche Verzinsung von Bundesanleihen mit einer Restlaufzeit von ein bis zehn Jahren liegt inzwischen im negativen Bereich. Selbst ein Portfolio aus 10-jährigen Bundesanleihen, das gleichmäßig über die letzten zehn Jahre aufgebaut wurde (in dem sich also auch noch zehn Jahre alte Bundesanleihen befinden), hat inzwischen nur noch einen ordentlichen Ertrag von weit unter 2%. Schon ein geringer Renditeanstieg reicht aus, um die Gesamtperformance eines solchen Portfolios in den negativen Bereich zu drücken.
Hinzu kommt, dass Privatanleger von den nächsten Insolvenzen ohnehin stärker als in der Vergangenheit betroffen sein dürften. Zum einen vergeben die Banken weniger Unternehmenskredite, so dass mehr Kredite über den Kapitalmarkt vergeben werden. Die Banken fallen also als Risikopuffer aus. Zum anderen dürfte die im Zuge der Finanzkrise überarbeitete Regulierung der Banken dazu führen, dass diese im Falle des Falles leichter abgewickelt werden können und nicht mehr mit Steuergeldern gerettet werden müssen. Dies ist zwar ordnungspolitisch durchaus begrüßenswert, führt aber eben auch dazu, dass sich Schieflagen von Banken schneller in einem Kreditportfolio widerspiegeln werden als dies in der Vergangenheit der Fall war. Ähnliches gilt auch für Schulden der öffentlichen Hand, die aufgrund der Einführung von Umschuldungsklauseln in der Zukunft leichter restrukturiert werden können.
Vergleichsweise besser abschneiden sollten hingegen die Schwellenländer. Die Finanzkrise war in erster Linie eine Krise der Industriestaaten, so dass auch die Folgen der Finanzkrise eher dort zu sehen sind. War beispielsweise der Populismus früher vor allem ein Problem in den Schwellenländern, so hat er in Folge der Finanzkrise vor allem in den westlichen Staaten an Zulauf gewonnen. Inzwischen sitzen die Verfechter des Freihandels nicht mehr in den USA oder in Großbritannien, sondern in China – auch wenn es sich dabei sicherlich um einen Freihandel nach chinesischen Regeln handelt. Die neuen Vorstöße in dieser Richtung kommen aus Asien und betreffen auch überwiegend die asiatischen Staaten.
Aber neben ganzen Regionen gibt es auch einzelne Firmen, die jetzt nach der Krise (relativ) besser dastehen sollten. "In jeder Krise steckt eine Chance", sagt der Volksmund und das gilt auch hier: Viele Unternehmen, vor allem in den Industriestaaten, sahen sich durch das Wegbrechen der Nachfrage gezwungen, ihre Kosten zu senken: Sie haben ihre Abläufe optimiert, ihre Strukturen verschlankt und treffen nun – sozusagen runderneuert – auf eine sich normalisierende Nachfrage. Bei entsprechend differenzierter Betrachtung können Investoren also durchaus Firmen finden, bei denen sich eine durch die Finanzkrise erzwungene "Rosskur" positiv in den Gewinnen der Firmen niederschlägt.
Die weiteren Aussichten
Auch wenn es sicherlich noch zu früh ist, ein abschließendes Fazit der Finanzkrise zu ziehen, so zeigt diese Analyse doch deutlich, dass die Folgen der Finanzkrise uns noch auf Jahre begleiten werden und wir von einer wirtschaftlichen Normalsituation noch weit entfernt sind. Das Wachstumspotential ist auf Jahre geschwächt. Dies zeigt sich unter anderem auch darin, dass dieser Aufschwung so langsam verläuft – dafür aber umso länger andauern kann. Die Verschuldungssituation hat sich seit der Finanzkrise zwar in Teilen gebessert, aber insgesamt ist die Verschuldung global betrachtet seither angestiegen. Das engt die Spielräume zur Lösung zukünftiger Krisen oder zum Abfangen wirtschaftlicher Abschwünge ein. Die (geo-)politischen Auswirkungen der Finanzkrise sind in ihrer ganzen Tragweite noch nicht abzusehen. Der Gegenwind, den die Globalisierung derzeit erhält, verspricht wenig Gutes. Die Konjunktur kann also noch eine Weile gut laufen; der strukturelle Gegenwind dürfte aber das langfristige Wachstum eher beinträchtigen. Darauf sollten sich Anleger einstellen.
1 . Als Output-Lücke bezeichnet man die Differenz zwischen dem tatsächlichen Output und dem Produktionspotential einer Volkswirtschaft.
2 . Dass Erholungen nach schweren Finanzkrisen langsamer verlaufen und länger dauern, wurde in der wissenschaftlichen Literatur ausführlich erläutert, so zum Beispiel Reinhart, C.M. und Rogoff, K.S.: This Time is Different (2009).
3 . Mit der Stillen Reserve bezeichnet man die Menschen im erwerbsfähigen Alter, die zwar gerne arbeiten würden, sich aber nicht aktiv nach einer Stelle umschauen beziehungsweise sich gar nicht erst als arbeitssuchend melden. Sie tauchen daher auch nicht in den üblichen Arbeitslosenstatistiken auf.
4 . Unter Forward Guidance versteht man die Kommunikationspolitik der Zentralbanken, den Marktteilnehmern Klarheit über die längerfristige Ausrichtung der Geldpolitik zu verschaffen.
5 . Schulden der Nichtbanken, also Staat, private Haushalte und Unternehmen ohne Bankensektor.
6 . https://www.zeitgeistminds.com/talk/4932305680334848/niall-ferguson-leaders-of-our-time-professor-niall-ferguson