Experten beschrieben die Debatte der beiden Vizepräsidentschaftskandidaten, Vizepräsident Mike Pence und Senatorin Kamala Harris, als „zivilisiert, kontrovers und nicht besonders aufschlussreich“.1 Diese Meinung teilen wir nicht. Schon allein ihre Normalität machte sie aufschlussreich. Große Teile der Debatte hätten zwischen beliebigen zwei Kandidaten der beiden Parteien in den letzten 36 Jahren stattfinden können. Sehr wenig von dem, was Vizepräsident Pence sagte, hätte womöglich bei einer Regierung mit beispielsweise Jeb Bush oder Marco Rubio als Präsident fehl am Platz geklungen. Was interessant ist, weil es unserer Ansicht nach zeigt, dass keine der beiden Seiten bis jetzt Lehren aus den Wahlen 2016 gezogen hat. Weder Pence noch, so scheint es zumindest immer mehr, die gesamte Wahlkampftruppe Trumps scheinen zu verstehen oder sich daran zu erinnern, wie Trump eigentlich 2016 gewonnen hat.
Damals gab es so etwas wie eine „Trump-Basis“ noch nicht. Stattdessen gab es laut einer groß angelegten Umfrage der nicht Partei gebundenen Democracy Fund Voter Study Group mindestens fünf Wähler-Cluster mit weit auseinander liegenden Ansichten zu sämtlichen Wahlkampfthemen, angefangen von Handel und Wirtschaft bis hin zu Rasse und Identität (siehe Chart).2 Besonders Trumps Wählerkern bei den Vorwahlen der Republikanischen Partei (die „Heimatbewahrer“) war davon überzeugt, dass das Wirtschaftssystem die reichen Eliten begünstige und forderte höhere Steuern für Wohlhabende. Seinen Sieg im Wahlkollegium verdankte Trump weitgehend wirtschaftlich und gesellschaftlich progressiven Wählern, die eine Abneigung gegenüber dem Establishment im Allgemeinen und gegen Hillary Clinton im Besonderen hatten („Anti-elitär“ – siehe Chart). Diese Wähler hofften, dass Trump die Demokraten im Kongress für Abkommen gewinnen könnte, um die Ausgaben für Infrastruktur zu erhöhen, die Wall Street unter Kontrolle zu bringen und den Klimawandel zu bekämpfen: Aber mit dieser sehr fragmentierten Wählerkoalition war es schwer zu regieren.3
Seit 2016 verliert Präsident Trump bei allen Gruppen, die bislang keine eingeschworenen Republikaner waren, ständig an Boden (vor allem bei den Zwischenwahlen).4 Covid-19 hat diese Erosion lediglich beschleunigt. All dies trägt zur Erklärung bei, warum Biden/Harris mit ihrer Wahlkampfstrategie gut positioniert sind – wenn es nicht zu weiteren Verschiebungen in letzter Minute kommt. Aber auch die Demokraten sollten über einiges nachdenken. Auch bei einem deutlichen Sieg könnten sie im Senat Sitze verlieren, da hier kleine Staaten im Vorteil sind.5 Wenn sie die Mehrheit erringen, könnte die Versuchung groß sein, die in verschiedenen Institutionen bestehende Bevorzugung der „republikanische Partei“ durch konstitutionelle Winkelzüge zu neutralisieren, zum Beispiel Washington D.C. und Puerto Rico den Status eines Bundesstaats zu verleihen. Ob nun derartige Schritte begründet sind oder nicht – sie sollten nicht von schwer vorhersehbaren Wahlüberlegungen geleitet werden. So ist keineswegs klar, dass Puerto Rico tatsächlich der Demokratischen Partei den Vorzug geben würde.6
Stattdessen müssen die Demokraten ihre Präsenz vor Ort im ganzen Land wieder weiter aufbauen. Der sich anbahnende Tsunami der Demokraten bei den Gouverneurswahlen in den US-Bundesstaaten könnte sich in der Tat als das in diesem Wahlzyklus größte, zu wenig beachtete Ereignis herausstellen. Senat und Wahlkollegium sind jedenfalls mit voller Absicht so angelegt, dass sich auch die Stimmen der Wähler in den kleinen Bundesstaaten Gehör im weit entfernten Washington verschaffen können. Die Trump-Revolte hat die Strategen der Clinton-Wahlkampagne 2016 gerade deshalb so überrascht, weil sie besonders in den kleinen Städten, den kleinen Bundesstaaten und dem ländlichen Amerika weit ab von den pulsierenden Geschäfts- und Kulturzentren des Landes am stärksten war.
Als dieser Blog-Beitrag verfasst wurde, sah es so aus, als ob die Debatte der Vizepräsidentschaftskandidaten die letzte in diesem Wahlkampf sein könnte. Nach einer Serie schlechter Umfragewerte für die Republikaner könnte der Verlauf des restlichen Rennens jetzt vorgegeben sein. Nach dem Covid-19-Ausbruch im Weißen Haus haben wir unsere (zuletzt im August aktualisierten) Wahrscheinlichkeitsratings erneut überprüft. Im Lauf der nächsten Woche wollen wir das Ergebnis veröffentlichen. In der Zwischenzeit finden Sie auf unserer Webseite dws.com unter US-Wahl 2020 zusätzliche Informationen und Sichtweisen zu diesem und anderen Themen. So viel sei schon verraten: Die Wahrscheinlichkeit, dass Präsident Trump (oder ein anderer Republikaner) die Präsidentschaft gewinnt, könnte (von derzeit 35 Prozent) weiter schwinden. Dagegen könnte die Wahrscheinlichkeit eines Rundumsiegs der Demokraten, bei dem die Demokratische Partei sowohl die Präsidentschaft als auch die Mehrheit in beiden Kammern des US-Kongresses gewinnt, von derzeit 42 Prozent weiter steigen, möglicherweise auf über 50 Prozent.
Politische Standortbestimmung von Trumps Wählerschaft
